Der Fall Tichborne war eine viktorianische cause célèbre und Anlaß für zwei der längsten Prozesse in der englischen Rechtsgeschichte. Er begann damit, daß Roger Tichborne, der älteste Sohn und Erbe Sir James Doughty-Tichbornes, des 10. Baronets, 1854 auf See verschwand. Die Tichbornes, die schon vor der normannischen Eroberung in Tichborne, einem Dorf im südenglischen Hampshire, ansässig gewesen waren, zählten zu den wenigen aristokratischen Familien, die an ihrem katholischen Glauben über die Reformation hinaus festgehalten hatten. Roger wurde 1829 geboren. Seine Mutter war zur Hälfte Französin (sie stammte von einer Nebenlinie der Bourbonen ab). Ihre Ehe mit Sir James war sehr unglücklich, und sie haßte das Leben in England. Sie wollte, daß ihr Sohn in Frankreich aufwächst, doch wurde er nach Stonyhurst gesandt, einer bekannten, von Jesuiten geleiteten katholischen Public School. Nach einer kurzen Karriere in der Armee und einer unglücklichen Liebesaffäre mit seiner Cousine, Katherine Doughty, reiste Roger durch Südamerika. Im April 1854 brach er auf der „Bella“ von Rio de Janeiro nach Kingston (Jamaica) auf. Das Schiff kam nie an; man vermutete, daß es untergegangen sei und es keine Überlebende gegeben habe.
Rogers Mutter weigerte sich, seinen Tod zu akzeptieren. Sie glaubte Gerüchten, wonach ein anderes Schiff Überlebende der „Bella“ an Bord genommen und nach Australien gebracht habe. Nach dem Tod ihres Mannes im Jahre 1862 begann sie, in Zeitungen zu inserieren, um Nachrichten über ihrem Sohn zu erhalten. Im Mai 1865 kam sie mit Arthur Cubitt in Kontakt, dem Besitzer einer australischen Agentur, die sich um Vermißte bemühte und ihre Dienste in den „Times“ annoncierte. Die Verbannung von Straftätern nach Australien war erst in den 1850er Jahren beendet worden, und das Land war voller Menschen, die ihre Identität zu verbergen suchten.
Lady Tichborne beauftragte die Agentur, in australischen Zeitungen zu annoncieren und eine Belohnung für Neuigkeiten von ihrem Sohn Roger auszuloben. Da es um ein jährliches Einkommen von 20000 Pfund ging, war das geradezu eine Einladung für Hochstapler. Ein Metzger namens Tomas Castro aus der Kleinstadt Wagga Wagga erklärte sich zu der Aussage bereit, daß er in Wahrheit Roger Tichborne sei und den Untergang der „Bella“ überlebt habe. Diejenigen, die ihm Glauben schenken wollten, maßen dem Umstand Bedeutung bei, daß er seine wahre Identität erst unter dem Druck von Cubitt und Gibbes, einem Anwalt aus Wagga Wagga, preisgegeben habe. Diese beiden überwarfen sich bald – als es nämlich darum ging, mit ihrer Entdeckung so viel Geld wie möglich zu machen. Im Moment hatte Castro zwar nur Schulden, als Roger Tichborne dagegen hatte er einiges zu erwarten (auch wenn die Ausgaben, die notwendig waren, um diese Rolle durchzuhalten, schnell stiegen).
Im Januar 1866 schrieb der Anwärter, wie er nun allgemein genannt wurde, seinen ersten Brief an Lady Tichborne. Es ähnelte dem Geschreibsel eines Analphabeten, und doch war Roger Tichborne zwölf Jahre zuvor ein gebildeter Mann gewesen. Dennoch: Als er nach Sydney kam, wollten einige den Anwärter als Roger Tichborne wiedererkennen, darunter ein alter schwarzer Diener der Familie Tichborne. Noch bevor Lady Tichborne das Geld für seine Überfahrt gesandt hatte, schiffte sich der Anwärter mit Frau und Kindern nach England ein, wo er Weihnachten 1866 eintraf. Von dort reiste er nach Paris weiter, wo ihn Lady Tichborne traf und als ihren Sohn erkannte. Sie starb im folgenden Jahr.
Nun machte die Geschichte Schlagzeilen. Sie wurde auf zahllosen Zeitungsseiten ausgebreitet und rief starke, aber zwiespältige Emotionen hervor. Mit Ausnahme der Mutter wies die ganze Familie den Anwärter als Betrüger zurück, ohne ihn gesehen zu haben. Für viele spielten dabei materielle Interessen eine Rolle, bedrohte er doch ihre Erbansprüche. Aber auch unabhängig davon wollten sie den ungehobelten Gesellen aus dem australischen Outback nicht als Verwandten akzeptieren. Innerhalb von zwei Jahren nach seiner Ankunft in England nahm dieser von 100 auf 180 Kilogramm zu; der echte Roger Tichborne war dagegen ein schlanker, eleganter Mann gewesen. Gegner des Anwärters wiesen auch darauf hin, daß ihn außer seiner exzentrischen Mutter niemand in der Tichborne-Familie wiedererkannt habe; und seine Anhänger hätten ihn mittlerweile über genügend Details aus der Familiengeschichte informieren können, um die Aufrechterhaltung des Betrugs zu ermöglichen…
Dr. Edgar Feuchtwanger