“Zur Zeit des Kaisers He, im 9. Jahr der Regierungsdevise Yongyuan, hat der Schutzgeneral Ban Chao den Gan Ying auf Gesandtschaft ins Land Da Qin geschickt. Als er in Tiaozhi ankam, befand er sich am Ufer eines großen Meeres und wollte es überqueren. Aber die Schiffer an der Westgrenze von Anxi sagten zu Gan Ying: ‚Dieses Meer ist groß, die, die hin und wieder zurückfahren wollen, benötigen einen guten Wind; das dauert drei Monate, und dann kann man es erst überqueren. Wenn man wieder zurückfahren will, so ist das nochmals eine Sache von zwei Jahren. Deswegen müssen die Leute, die so dieses Meer befahren wollen, drei Jahre dafür veranschlagen.‘ Als Gan Ying das hörte, ließ er von seinem Vorhaben ab”.
Dieser Bericht steht im Hou Hanshu, der offiziellen Dynastiegeschichte der Späteren Han-Dynastie Chinas. Er handelt von dem Versuch des Jahres 97 n.Chr., mittels eines Gesandten direkten Kontakt mit dem in China für seine Juwelen und Exotika berühmten Imperium Romanum (Da Qin) aufzunehmen und so die Vermittlung der iranischen Partherkönige zu umgehen. Viel spricht dafür, daß Gan Ying von Kaschgar an der Seidenstraße aus über Gandhara und Arachosien nach Westen gezogen war und schließlich die südmesopotamische Charakene/Mesene (Tiaozhi), ein parthisches ‚Vasallenkönigreich‘, erreicht hatte. Dort wurde er, wie gehört, von parthischen oder mesenischen Kapitänen davor gewarnt, zur See durch den Persischen Golf, und – unter Nutzung der Monsunwinde – um die Arabische Halbinsel herum und das Rote Meer hinauf ins Imperium Romanum gelangen zu wollen. Mit seiner Rückkehr nach China bzw. ins Tarim-Becken war der einzige Versuch der Chinesen, mit den Römern direkt in Kontakt zu treten, gescheitert.
Die Parther, die damals so sehr darauf bedacht waren, ihre Vermittlerrolle zwischen Ost und West nicht zu verlieren, sind uns Europäern vor allem als militärische Gegenspieler Roms bekannt. Wer erinnert sich nicht der großen Niederlage des Crassus bei Carrhae in Mesopotamien 53 v.Chr.? Der von Augustus durch Wort und Bild gebührend gefeierten Rückgabe römischer Feldzeichen durch die Parther 33 Jahre später? Oder des großen Sieges von Kaiser Lucius Verus 165 n.Chr., der letztlich aber in einer Katastrophe endete, weil die römischen Truppen bei ihrem Rückzug eine tödliche Seuche aus dem Orient ins Imperium einschleppten? Der Umstand, daß die römische Überlieferung den politisch-militärischen Antagonismus zwischen den beiden Großmächten jener Zeit besonders betont und die Parther einer barbarisch-degenerierten orientalischen ‚Gegenwelt‘ zuweist, hat aber bewirkt, daß die anderen Rollen, die diesen iranischen Herrschern in den Ost-West-Beziehungen jener Zeit zukamen, weithin in Vergessenheit gerieten…
Prof. Dr. Josef Wiesehöfer