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„Gar elendig lamentiren“

Kinderarmut vom 17. bis ins 20. Jahrhundert

„Gar elendig lamentiren“
Kinderarmut ist ein zeitloses Phänomen. Doch weshalb fielen Kinder in früheren Jahrhunderten in Armut, und wie reagierten Staat und Gesellschaft darauf ? Wie war der Alltag in Waisenhäusern und Pflegefamilien?

S o beschrieb Heinrich Heine 1854 in seinem Gedicht „Erinnerung an Hammonia“ den alljährlich stattfindenden öffentlichen Umzug der Waisenkinder in Hamburg. Mit dem „Waisengrün“ sollten bis 1876 vor allem Spenden für das Hamburger Waisenhaus eingeworben werden, gleichzeitig sollte der Umzug aber auch ein Festtag für die Waisenkinder selbst sein. Wie Heinrich Heine in seinem Gedicht beschreibt, nutzten viele Hamburger Bürger diesen Tag, um für die Kinder, die aufgrund ihrer Elternlosigkeit und Armut Mitleid erregten, zu spenden.

Waisenkinder waren sicherlich die prominenteste Gruppe unter den von Armut betroffenen Kindern und Jugendlichen früherer Zeiten. Untersuchungen über verschiedene Waisenhäuser und andere Erziehungsanstalten zeigen aber, dass es sich bei den in diesen Einrichtungen erzogenen Kindern häufig gar nicht um Vollwaisen im eigentlichen Sinn handelte. Zudem waren sie nicht die einzige Gruppe von armen Kindern. Auch Kinder, die in von Armut betroffenen Familien aufwuchsen, waren auf Unterstützung angewiesen.

Welche Kinder im Einzelnen als arm und hilfsbedürftig anzusehen waren, hing natürlich von den in einer bestimmten Zeit und Region üblichen Lebensbedingungen ab. Überträgt man heutige Definitionen von Kinderarmut auf frühere Zeiten, spielt jedoch nicht nur die Verfügbarkeit von materiellen Gütern wie Lebensmitteln, Kleidung und Wohnraum eine Rolle. Dazu kamen auch andere Faktoren wie der Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung, die Betreuungssituation und die Chance zur kind‧gerechten Entwicklung. Letztere war bis zum Erlass der ersten gesetzlichen Schutzbestimmungen im 19. Jahrhundert oft dadurch gefährdet, dass viele Kinder in Fabriken oder auch landwirtschaftlichen und handwerklichen Betrieben arbeiten mussten, um zum Lebensunterhalt ihrer Familie beizutragen. Erst 1839 wurde in Preußen ein Gesetz erlassen, das es verbot, Kinder unter einem Alter von neun Jahren in Fabriken zu beschäftigen. Ältere Kinder bis zum Alter von 16 Jahren durften nur beschäftigt werden, wenn sie nachweisen konnten, dass sie zumindest lesen und schreiben gelernt hatten oder neben der Arbeit eine Schule besuchten. Die Beschäftigung schulpflichtiger Kinder wurde erst 1891 ganz verboten.

Neben Armut und Elternlosigkeit war häufig auch drohende oder bereits eingetretene Verwahrlosung ein Grund, weshalb Kinder in das Visier staatlicher oder karitativer Einrichtungen gerieten. Dies galt vor allem für diejenigen, deren angebliche Verwahrlosung dadurch öffentlich sichtbar wurde, dass sie den größten Teil des Tages unbeschäftigt auf der Straße verbrachten. Dabei handelte es sich in erster Linie um ein großstädtisches Phänomen, das im 19. Jahrhundert vor allem in Großbritannien intensiv diskutiert wurde. Hier wurden diese „Straßenkinder“ (die in den meisten Fällen eine Familie und ein Zuhause hatten) oft als savages (Wilde) bezeichnet – eine Formulierung, die ihre Andersartigkeit und potentielle Gefährlichkeit betonen sollte.

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In ähnlicher Weise wurden häufig alle Kinder, die von der Fürsorge unterstützt wurden, als Waisen oder von ihren Eltern verlassene Kinder dargestellt. Damit wurde einerseits Mitleid erregt, wodurch – wie es auch in dem Gedicht von Heinrich Heine anklingt – leichter Spenden eingeworben werden konnten. In den Augen vieler, die sich mit der Erziehung armer Kinder beschäftigten, galten im übertragenen Sinn aber auch viele Kinder, deren Eltern noch am Leben waren, als elternlos oder von ihren Eltern verlassen, wenn sich herausgestellt hatte, dass diese nicht dazu fähig oder willens waren, ihnen eine angemessene Erziehung zukommen zu lassen. Wenn daher die Pflege und die Erziehung der Kinder von anderen Stellen übernommen werden mussten, sollten nach weitverbreiteter zeitgenössischer Auffassung im Gegenzug die Eltern auch von den Entscheidungen über die Erziehung ihrer Kinder weitgehend ausgeschlossen werden, zumal man annahm, dass sie nur einen schlechten Einfluss auf ihre Kinder ausüben würden.

Aus welchen Verhältnissen stammten aber nun die Kinder, die in Waisenhäusern oder anderen Erziehungsanstalten erzogen wurden? Was hatte dazu geführt, dass Eltern nicht mehr für ihre eigenen Kinder sorgen konnten? Diese Fragen lassen sich für einige Anstalten anhand der erhalten gebliebenen Personalakten der dort aufgenommenen Kinder beantworten. Sie zeigen, dass es sich nur zum Teil um Vollwaisen handelte, die Vater und Mutter verloren hatten. Stattdessen findet man häufig Fälle, in denen Witwen oder Witwer vor der Aufgabe standen, nach dem Tod des Ehepartners sowohl die Rolle des Ernährers der Familie als auch die Erziehung der Kinder übernehmen zu müssen. Wenn sich niemand fand, der kleinere Kinder tagsüber beaufsichtigen konnte, blieb vielen Eltern oft keine andere Möglichkeit, als sich mit der Bitte um Unterstützung an die Armenfürsorge zu wenden. Kindergärten oder Kinderkrippen entstanden erst während des 19. Jahrhunderts und waren lange Zeit nur in größeren Städten vorhanden, zudem mussten diese Einrichtungen bezahlt werden. Auch wenn ein Elternteil wegen einer schweren Krankheit ausfiel, eine Gefängnisstrafe verbüßen musste oder die Familie verlassen hatte, befanden sich Familien in einer schwierigen Situation. Häufig wurde in solchen Fällen entschieden, den Eltern das Kind „abzunehmen“, damit diese weiterhin ihren eigenen Lebensunterhalt erwirtschaften konnten – ein Ziel, das zum Teil bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein gegenüber dem Erhalt der Familie als vorrangig angesehen wurde. Oft wurden die Eltern sogar dazu verpflichtet, die Unterbringung ihres Kindes in der Anstalt oder Pflegefamilie zumindest teilweise zu bezahlen.

Neben verwitweten Eltern waren besonders unverheiratete Mütter von diesen Regelungen betroffen. Sie mussten oft schon bald nach der Geburt ihr Kind abgeben, um weiterhin als Dienstmädchen arbeiten zu können. Die Säuglinge wurden zumeist in Pflegestellen gegeben, wo ihre Überlebenschancen aufgrund unzureichender Hygiene und ungeeigneter Ernährung in der Regel sehr gering waren. Solche Pflegestellen wurden privat gegen Bezahlung angeboten, aber auch die kommunale Armenfürsorge vermittelte und finanzierte in vielen Städten Pflegestellen. In vielen Gegenden wurden zudem nicht nur Kleinkinder, sondern auch ältere Kinder in Pflegefamilien untergebracht…

Sonderforschungsbereich „Fremdheit und Armut“ an der Universität Trier Wie begegnen Gesellschaften Fremden und Armen? Wer wird ausgeschlossen, wer aufgenommen? Wie viel Unterstützung wird Bedürftigen gewährt? Mit den Möglichkeiten und Grenzen gesellschaftlicher Solidarität gegenüber Fremden und Armen von der Antike bis in das 20. Jahrhundert befasst sich der Sonderforschungsbereich (SFB) 600 der Universität Trier. Der interdisziplinäre und internationale Forschungsverbund – bestehend aus 22 Teilprojekten mit insgesamt 70 Mitgliedern – wurde 2002 mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und des Landes Rheinland-Pfalz eingerichtet. Neben dem Fach Geschichte beteiligen sich daran die Fächer Germanistik, Kunstgeschichte, Medienwissenschaft, Politikwissenschaft, Rechtsgeschichte, Sozio‧logie und Katholische Theologie. Dem SFB ist es wichtig, die Ergebnisse seiner Arbeit einer breiten Öffentlichkeit zu vermitteln. Im Mittelpunkt steht dabei in diesem Jahr die Sonderausstellung „Armut – Perspektiven in Kunst und Gesellschaft“ in Trier.

http://www.sfb600.uni-trier.de

Armut – Perspektiven in Kunst und Gesellschaft Sonderausstellung im Stadtmuseum Simeonstift Trier und im Rheinischen Landesmuseum Trier 10. April – 31. Juli 2011

Europa und seine Armen: Die Ausstellung zeigt die Geschichte der Armut und der Armen im Spiegel der Kunst. Erstmals überhaupt widmet sich damit eine Ausstellung diesem Thema von der Antike bis zur Gegenwart und beleuchtet dabei die verschiedenen Perspektiven, unter denen Armut betrachtet wird. Mit mehr als 200 Exponaten aus mehr als 50 europäischen Museen entwickelt die Ausstellung ein beeindruckendes, mitunter auch bedrückendes Panorama der Rolle der Schwachen in europäischen Gesellschaften.

Das Rheinische Landesmuseum, das sich der „Armut in der Antike“ widmet, zeigt unter anderem lebensgroße Abgüsse hellenistischer und römischer Statuen, wie der Trunkenen Alten, sowie originale Kleinplastiken. Das Stadtmuseum Simeonstift, das den Zeitraum vom Mittelalter bis zur Gegenwart abdeckt, präsentiert ein breites Spektrum an Exponaten mit vielen Höhepunkten: Dazu gehören Pablo Picassos Radierung „Das karge Mahl“, ein Altarbild aus Budapest mit der Mantelteilung des heiligen Martin und Max Liebermanns „Hof des Waisenhauses in Amsterdam“. Pieter Brueghel d. J. hält mit seinen „Sieben Werken der Barmherzigkeit“ die Mildtätigkeit als moralische Pflicht vor Augen; Rembrandts „Bettelmusikanten“ sind ein Beispiel für die Idealisierung des Lebens in Armut.

Anschließend präsentiert das Museum der Brotkultur in Ulm die Schau in reduziertem Umfang.

Die Ausstellung ist ein Gemeinschaftsprojekt des Rheinischen Landesmuseums, des Stadtmuseums Simeonstift und des Sonderforschungsbereichs 600 „Fremdheit und Armut“ an der Universität Trier. Der Begleitband zur Ausstellung erscheint im Primus Verlag (Darmstadt).

http://www.armut-ausstellung.de

Katharina Brandes

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Ca|put mor|tu|um  〈n.; – –; unz.; Chem.〉 beim Glühen von Eisen–III–Sulfat entstehendes, braunrotes Eisen–III–Oxid, zum Polieren von Glas u. Metallen u. als Malerfarbe verwendet; Sy Kolkothar … mehr

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