Wer heute von Paris, Lyon oder Poitiers in das Land zwischen Provence und Pyrenäen reist, passiert irgendwo eine unsichtbare Grenze, die sich in der Sprache, in Mentalität und Kultur bemerkbar macht. Der tiefere Grund dafür ist in jenem Okzitanien zu sehen, das als eigenständige politische und kultu?relle Größe in den Ländern um Rhône und Garonne bis ins 13. Jahrhundert existierte.
Die Hauptstadt Okzitaniens war Toulouse. Die heutige Provinzmetropole und Universitätsstadt an der Garonne hat trotz ihres rasanten wirtschaftlichen Aufstiegs in der Neuzeit viel von ihrem mittelalterlichen Charme bewahren können. Das romanische Kirchenschiff der Kathedrale Saint-Étienne wurde kurz vor Ausbruch des Albigenser-Kriegs durch einen gotischen Anbau erweitert. Die Bischöfe von Toulouse spielten bei der Verfolgung der Katharer eine führende Rolle.
In enger Verbindung zur Kathedrale stand überdies die große romanische Klosterkirche Saint-Sernin. Ursprünglich außerhalb der Stadtmauern gelegen, war diese Kirche schon früh als Begräbnisort des ersten Tolosaner Bischofs Saturninus (Sernin) ein Anziehungspunkt für christliche Pilger. Um Saint-Sernin entstand mit der Zeit ein eigener Stadtteil. Heute ist die Ende des 11. Jahrhunderts errichtete fünfschiffige Basilika eines der schönsten Beispiele der französischen Romanik. Mit ihren im Ostchor verwahrten Reliquienschätzen gehört sie zu den bedeutendsten Stationen auf dem Pilgerweg nach Santiago de Compostela.
Von den weiteren mittelalterlichen Klosterkirchen in Toulouse ist besonders der Dominikanerkonvent an der Place des Jacobins für die Geschichte des Katharertums bedeutsam. An dieser Stelle gründete der heilige Dominikus (siehe Seite 34) zur Bekämpfung der Ketzer in Okzitanien ein Kloster, das bald zum Haupt des in ganz Europa tätigen „Ordens der Predigerbrüder“ werden sollte. Den Dominikanern in Toulouse wurde im Jahr 1231 von Papst Gregor IX. die Inquisition übertragen, deren erster Amtssitz in Toulouse in der Rue de la Fonderie zu besichtigen ist. Eine beeindruckende Sammlung mittelalterlicher Kunst erwartet den Besucher im Musée des Augustins, das allein wegen seiner Unterbringung in einem spätmittelalterlichen Augustinerkonvent eine Visite wert ist.
Ähnlich reichhaltigen Skulpturenschmuck aus dem 11. und 12. Jahrhundert bieten noch die klösterlichen Pilgerzentren des Midi auf dem Jakobsweg: der Kreuzgang der Abtei Moissac, etwa 40 Kilometer nördlich von Toulouse, das berühmte Tympanon von Conques in der Einsamkeit des Massif Central oder das Portal der östlich gelegenen Abteikirche von Saint-Gilles, wo mit Pierre de Castelnau der erste katholische Märtyrer des Albigenser-Kriegs begraben liegt. Pierre hatte als Mönch im Zisterzienserkloster Fontfroide bei Narbonne gelebt, bevor er päpstlicher Legat wurde. Die Abtei bietet noch heute einen unvergeßlichen Eindruck von der inspirierten Schlichtheit zisterziensischer Baukunst.
Toulouse ist durch die Garonne mit dem kleinen Ort Muret verbunden, der etwa 15 Kilometer südlich liegt. Hier besiegte der päpstliche Feldherr Simon de Montfort im September 1213 die vereinigten Truppen Graf Raymonds VI. von Toulouse und König Peters von Aragón – eine Vorentscheidung im Albigenser-Krieg. Folgt man der Ariège, die wenige Kilometer vor Muret in die Garonne mündet, in Richtung Süden, erreicht man die kleine Stadt Foix. Die hier ansässigen Grafen, deren Burg noch heute stolz über der Stadt thront, standen im Albigenser-Krieg an der Seite ihrer Lehnsherren, der Grafen von Toulouse. Esclarmonde de Foix, die Schwester des Grafen von Foix, gehörte zu den bekanntesten Katharerinnen ihrer Zeit. Das Territorium von Foix im Schatten der Pyrenäen umfaßt eine Reihe bedeutender Burgen und befestigter Orte, die im Albigenser-Krieg Widerstand gegen die päpstlichen Kreuzfahrer leisteten.