Es war Sonntag, der 28. Dezember 1879. In Dundee, einer Industriestadt rund 75 Kilometer nördlich von Edinburgh, war es ruhig, nur das Wasser des Tay, der fjordartig in einer Breite von rund drei Kilometern in die Nordsee mündet, schwappte gegen die Mauern des Hafenbeckens.
Die beiden Meeresarme Firth of Forth und Firth of Tay behinderten den Bau von Eisenbahnen lange Zeit, versperrten sie doch den direkten Weg von Edinburgh in die aufstrebende Industriemetropole Dundee. Viermal mussten die Fahrgäste der Edinburgh & Northern Railway vom Zug auf die Fähre und umgekehrt umsteigen. Der Bau von zwei großen Eisenbahnbrücken sollte Abhilfe schaffen.
Am 28. Dezember 1879 verließ der Verbindungszug nach Dundee um 16.15 Uhr Waverly Station in Edinburgh. In Granton wartete bereits der Schaufelraddampfer „William Muir“, mit dem die Fahrgäste den Firth of Forth nach Burntisland überquerten. Dort stand der Anschlusszug bereit. Mit sieben Minuten Verspätung begann der „Edinburgh“ um 17.27 Uhr seine Fahrt nach Dundee.
Zur selben Zeit zog über der Bucht ein Sturm auf, wie er im Spätherbst oft durch Schottland braust. Mit heftigen Graupelschauern und Windgeschwindigkeiten bis zu 125 Kilometern pro Stunde fegte er über den Tay hinweg. In Dundee deckte er die ersten Dächer ab. Auf der Nordseite der Brücke trieb der Sturm drei vollbeladene Kohlenwagen aus einem Nebengleis bergauf in den rund 360 Meter entfernten Ladehof. Um 17.50 Uhr fuhr der abendliche Lokalzug von Dundee nach Newport – er war der letzte, der mit knapper Not unbeschadet die Tay-Brücke überquerte.
1854 hatte der Ingenieur Thomas Bouch einen ersten Entwurf für eine Brücke über den Tay vorgelegt. 1822 in Cumberland geboren und bereits mit 17 Jahren als Ingenieur bei der Stockton & Darlington Railway beschäftigt, war er später Oberingenieur und Manager bei der Edinburgh & Northern Railway. Bekannt wurde er vor allem durch Entwürfe neuartiger Brückenbauten. Seine kühne Idee, einen Meeresarm mit einer gigantischen Brücke zu überwinden, fand zwar großes Interesse, wurde aber zunächst als Utopie abgetan. Doch Bouch wurde nicht müde, für seine Idee zu werben. Und seine Vision, „Eisen und Mauerwerk mit zwei Meilen von Luft und Wasser zu verweben“, passte perfekt in das Selbstverständnis der Viktorianer: Wo außer in England könnte die größte Brücke der Welt gebaut werden?
Nach 27 Jahren erbitterter Diskussionen über das Für und Wider billigte das Parlament das Projekt im März 1870 im dritten Anlauf. Der „endgültige“ Bauplan vom Herbst 1868 sah einen Brückenverlauf von insgesamt 89 Öffnungen vor. Die Spannweiten der einzelnen Brückenfelder reichten bis zu knapp 61 Metern mit einer lichten Höhe von über 26 Metern, was auch Segelschiffen die Durchfahrt unter der Brücke ermöglichen sollte. Insgesamt erreichte das Bauwerk eine Länge von 3146 Metern.
Die Bauarbeiten begannen am 22. Juli 1871. Besonders schwierig war der Bau der Funda‧mente für die Pfeiler. Schmiedeeiserne Senkkästen in Form großer Zylinder wurden mit Booten an die berechneten Stellen gebracht und dort aufrecht stehend auf den Flussboden abgesenkt. Innerhalb dieser Senkkästen begannen die Arbeiter dann, den Flussboden mühsam mit Schaufel und Pickel abzutragen; das Aushub‧material brachte man durch die Röhre nach oben. Die Arbeitsbedingungen waren unvorstellbar: Innerhalb der Senkkästen – mit einem Durchmesser von rund 2,7 und einer Höhe von 2,1 Metern – konnten sich die Arbeiter kaum bewegen. Die Beleuchtung war miserabel, die Luft nach kürzester Zeit verbraucht…
Markus Hehl