Obwohl ich den größten Teil meines Lebens an die Verbesserung der Menschheit geglaubt habe, sehe ich mit Bitterkeit die zahllosen Übel und die weitverbreitete Korruption in diesem sogenannten zivilisierten Jahrhundert.“ So sinnierte Garibaldi enttäuscht nur zwei Jahre nachdem am 20. September 1870 italienische Truppen durch eine Bresche an der Porta Pia nach Rom eingedrungen waren. Die Einnahme der Stadt und das Ende des Kirchenstaates waren mehr durch diplomatische Ränkespiele als durch heldische Schlachten errungen worden. Das welthistorische Ereignis konnte die Bürde des Vorläufigen und Widersprüchlichen, die den italienischen Nationalstaat seit seiner Gründung belastete, nicht aufheben. Die Abkehr weiter Teile der katholischen Bevölkerung vom neuen Staat und die großen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Unterschiede zwischen den Regionen lasteten als Hypothek auf dem noch im Entstehen begriffenen Staatsgebilde.
Durch ein striktes Zensuswahlrecht waren 99 Prozent der Bevölkerung aus dem System der parlamentarischen Repräsentanz ausgeschlossen. Wichtige gesellschaftliche Kräfte waren im Parlament gar nicht oder nur in sehr geringem Maß vertreten. In den Augen vieler Beteiligter, insbesondere der glühendsten Anhänger des Risorgimento, stellte sich folglich der neue Staat als von den realen Bedürfnissen der Menschen weit entfernt und als ungerecht dar. Man sprach bald von dem Gegensatz zwischen paese legale („Land der Gesetze“) und paese reale („gesellschaftliche Wirklichkeit“): eine Zweiteilung, die bis heute die Erfahrungswelt der meisten Italiener und Italienerinnen prägt. …
Den vollständigen Artikel finden Sie in DAMALS 11/2014.
Dr. Jessica Kraatz Magri