Angkor war der Höhepunkt einer Zivilisation, die sich in den ersten Jahrhunderten nach der Zeitenwende zu entwickeln begann. Schriftliche Belege dafür gibt es zunächst nur in chinesischen Annalen. Sie erwähnen auf dem Gebiet des heutigen Kambodscha und des südlichen Laos zwei bedeutende Königreiche, Funan im Süden und Zhenla im Norden, die mit dem chinesischen Kaiserhof Gesandtschaften austauschten. Daneben gab es zahlreiche kleinere staatliche Einheiten. Funan war schon im 3. Jahrhundert n. Chr. eine bedeutende Handelsmacht für Gold, Edelhölzer und Seide. Der Seehafen Oc Eo profitierte vom Warenverkehr zwischen Rom, Indien und China. Die frühesten überlieferten Kunstwerke stammen aus Funan und Zhenla. Es handelt sich um brahmanische (hinduistische) und buddhistische Stein- und Holzskulpturen aus dem 6. bis frühen 8. Jahrhundert, die von großer Schönheit sind und eine erstaunliche künstlerische Perfektion zeigen. Sie stehen in der Tradition indischer Kunst und haben doch einen eigenen, unverkennbaren Stil.
Aus der Anfang des 7. Jahrhunderts in Zhenla neu gegründeten Hauptstadt Isanapura (dem heutigen Sambor Prei Kuk) sind die eindrucksvollsten frühen Tempelbauten überliefert. Die kleinen, über einem quadratischen Grundriß errichteten Heiligtümer bestehen nur aus einer nach Osten geöffneten Cella (Sanktum) mit Turm. Sie wurden aus gebrannten Ziegeln gebaut und an ihren Außenfassaden mit Ziegelreliefs geschmückt. Nur für die Türlaibungen mit den flankierenden Pilastern und für die Türstürze hat man Sandstein verwendet. Sie tragen häufig Inschriften, vegetabile Ornamente aus Blättern und Blüten sowie Reliefs mit Rankenwerk oder figürlichen Darstellungen aus der indischen Mythologie.
Indischer Einfluß hat sich im Zuge von Handelsbeziehungen schon vor der Zeitenwende, aber verstärkt in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten in ganz Südostasien ausgebreitet. Die Religionen Buddhismus und Brahmanismus mit ihrer Mythologie und ihren heiligen Schriften ?sowie die epischen Dichtungen „Ramayana“ und „Mahabharata“ wur-den aufgenommen, verarbeitet, der lokalen Tradition angepaßt und schließlich zu einer unverwechselbar eigenen Kultur entwickelt.
Die altindische Sprache Sanskrit, die seit Beginn des 5. Jahrhunderts in der Epigraphie (Inschriften auf Stein) Südostasiens nachgewiesen ist, war die heilige Sprache schlechthin. Die meisten Inschriften, die von königlichen Stiftungen wie Tempeln oder Statuen berichten und Hymnen an die Götter sowie Elogen auf den Herrscher enthalten, wurden bis zum beginnenden 14. Jahrhundert auf Sanskrit verfaßt und in der aus einem südindischen Alphabet entwickelten Khmer-Schrift geschrieben. Daneben sind seit dem 7. Jahrhundert Stein-inschriften auf Khmer erhalten. Die reichhaltige Epigraphie ist für die Forschung die wichtigste Informationsquelle bis zum Ende der Angkor-Zeit. Die Daten, die sie erwähnt, stellen eine unverzichtbare Hilfe bei der chronologischen Einordnung der Könige und ihrer Bauwerke dar. Darüber hinaus geben die Inschriften Einblick in die gesellschaftlichen Verhältnisse und vermitteln ein lebendiges Bild des damaligen Lebens. Nach einer politisch instabilen Zeit innerer Zersplitterung und Angriffen von außen im 8. Jahrhundert gelang es König Jayavarman II. an der Wende zum 9. Jahrhundert, die Khmer zu einen. Er verlegte seine Hauptstadt von der Randlage im nordöstlichen Landesteil in das Zentrum weiter westlich nahe dem späteren Angkor und gründete die Stadt Hariharalaya (Roluos). Unter seinem Nachfolger Indravarman I. (877–889) begann eine Epoche unvergleichlicher politischer und kultureller Leistungen. Territoriale Eroberungen vergrößerten das Land, das jetzt Kambujadesha (Land der Kambujas, der Nachkommen des mythischen Vorfahren Kambu) genannt wurde.
Es setzte eine beispiellose Bautätigkeit ein, beginnend mit dem als Ahnentempel angelegten Preah Ko (879). Die Ziegelwände wurden mit Stuck überzogen. Farbreste an wenigen noch erhaltenen Stuckpartien zeigen, daß die Tempel ursprünglich, zumindest teilweise, bemalt waren. Als ersten Tempelberg in Form einer Stufenpyramide aus Sandstein ließ Indravarman I. den Bakong bauen (Abb. 3). 881 weihte er ihn dem Gott Shiva, indem er im zentralen Schrein auf der obersten Stufe ein Linga errichtete. Der säulenartige, oben abgerundete Schaft des Linga, hervor- gegangen aus einem frühen Phallus-Kult, ist das Symbol für die höchste, absolute Form Shivas, mit dem sich die meisten Khmer-Könige identifizierten…
Dr. Wibke Lobo