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Krankheiten im Wandel

Pest. Über die (Un-)Möglichkeit retrospektiver Diagnosen

Krankheiten im Wandel
Um welche Krankheit handelte es sich bei der von Thukydides beschriebenen „Pest“ im antiken Athen oder bei der Justinianischen Pest im Byzanz des 6. Jahrhunderts? War auch damals schon das Bakterium „Yersinia pestis“ im Spiel, das der Schweizer Mediziner Alexandre Yersin 1894 als Erreger entdeckt hat? Unser Autor steht einer solchen retrospektiven, also rückschauenden Diagnostik skeptisch gegenüber.

Menschen einer bestimmten Epoche und Kultur reagieren auf ein und dieselbe Krankheitsdiagnose höchst unterschiedlich: Die Reaktionen reichen vom Nicht-Wissen-Wollen und Verdrängen über ein ergebenes Annehmen bis zur entschlossenen Kampfansage. Trifft dies für individuelle Erkrankungen zu, so stellt sich die Frage, ob es hinsichtlich von Massenerkrankungen auch gleichförmige Reaktionen größerer Gruppen oder ganzer Gesellschaften gibt. Diese Frage ist zu bejahen: Die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen im Umgang mit Bedrohungen wie AIDS, „SARS“, „Vogelgrippe“ oder „Schweinegrippe“ stereotype öffentliche Wahrnehmungs- und Reaktionsmuster, die zwischen Massenhysterie und pragmatischer Bewältigung schwanken. Vom naturwissenschaftlich-medizinischen Standpunkt aus betrachtet, handelt es sich um je eigene Krankheitseinheiten, die durch ihren jeweiligen Erreger definiert sind. Soweit es sich um Viruserkrankungen handelt, wie bei den erwähnten Beispielen, ist die Identifikation der Erreger erst in den letzten Jahren erfolgt. Allgemein ist die Mikrobiologie als Wissenschaft von den lebenden Kleinstlebewesen, die im Menschen ansteckende Krankheiten erzeugen können, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt worden. Namen von Bakteriologen wie Robert Koch (1843–1910) und Louis Pasteur (1822–1895) stehen symbolisch für den Fortschritt der Medizin und die an ihn geknüpften Erwartungen und Hoffnungen.

Der Blick in die Geschichte zeigt, dass Seuchen in allen historischen Epochen auftraten und charakteristische Reaktionen bewirkten. Entsprechend dem grundsätzlich anderen Krankheitsverständnis der Vormoderne begegnen auch andere Bewältigungsstrategien. Das Seuchenkonzept der vormodernen Medizin lässt sich seit der Antike mit dem Begriff „Miasma-Theorie“ umschreiben: Unter dem Einfluss eines heißen Klimas entstünden aus organischem Material faulige Dämpfe, die aus „Unreinheiten“ (griechisch miasmata) in die Luft stiegen und die Atemluft vergifteten. In den Körper gelangt, lösten sie „Fäulnis“ (griechisch sepsis) aus, was sich als fieberhafte Pesterkrankung äußere. Gegen diese Miasmata half am besten Luftveränderung, das heißt Ausweichen an einen anderen Ort; als nützlich galten weiterhin Räucherung und Feuer, ferner die Einnahme als prophylaktisch angesehener Pharmaka.

Neben dieser gelehrten Anschauung behauptete sich die Laienbeobachtung, dass Seuchen ansteckend waren, ein in der Vormoderne zwar schwierig konzeptuell fassbares, aber für die sozialen Reaktionen auf Seuchen wichtiges Phänomen. Außerordentlich verbreitet war schließlich auch die Anschauung, dass Seuchen als himmlische Strafen für Frevel, gelegentlich auch als Prüfung verhängt würden; dieses Erklärungsmuster durchzieht die ägyptische, altorientalische, israelitisch-alttestamentliche Literatur ebenso wie die griechische und römische Antike. Im Christentum und im Islam ist es ebenfalls, teils bis heute, evident. Entsprechend dieser metaphysischen Erklärung bildeten Bußübungen und religiöse Riten stets einen festen Bestand-teil der vormodernen Seuchenabwehr. In der Reaktion vormoderner Gemeinwesen auf Seuchen sind stets Verhaltensweisen erkennbar, die sich mit den heutigen vergleichen lassen: kollektive Angstreaktionen, Panik, Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung. Man kann hier von anthropologischen Konstanten sprechen: Die gesellschaftlichen Folgen einer Pest, hier im all‧gemeinsten Sinne von Seuche verstanden, ähneln einander, unabhängig vom Erklärungshorizont der zeitgenössischen Medizin.

Seit die naturwissenschaftliche Medizin im späten 19. Jahrhundert die Kausalität der Seuchen durch das Wirken von Mikroben erklärte, wurde auch versucht, die aus der Antike überlieferten Seuchenschilderungen mit dem Blick der gegenwärtigen Medizin zu lesen. Die vormoderne Seuchentheorie galt nun als unwissenschaftlich bzw. abergläubisch, mithin als überholt und überflüssig. Indem sich die moderne Medizin dennoch den historischen Seuchenschilderungen zuwandte, ging es zum einen darum, den Gegenstand eigener Forschungen durch den Blick in die Antike gleichsam zu adeln. Mancher Laborforscher mochte die Mikroben, mit denen er sich täglich befasste, auch im Umfeld des antiken Stammvaters der Heilkunde, Hippokrates, sehen oder welthistorische Ereignisse wie die „Pest“ in Athen oder die Justinianische Pest mit einem bestimmten Erreger assoziieren. Hinter dieser Art der retrospektiven Diagnose stand und steht der Anspruch, historisches Geschehen auf naturwissenschaftliche „Fakten“ zurückzu‧führen und damit „objektiv“ zu erfassen.

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Der Gedanke, eine historische literarische Seuchenschilderung mit einer modernen Krankheitseinheit zu identifizieren und – aus einer Kette derartig erschlossener Epidemien – eine zusammenhängende Geschichte einer bestimmten Seuche wie der Pest zu (re)konstruieren, liegt nahe, ist aber methodisch problematisch, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Geeignete Beispiele sind die Schilderungen der attischen „Pest“ von 430 v. Chr. im Geschichtswerk des Thukydides und diejenige der Justinianischen Pest im Werk des Prokop aus Caesarea.

Die thukydideische „Pest“-Schilderung enthält, anders als frühere Seuchenschilderungen wie diejenige in der homerischen „Ilias“ oder die alttestamentliche Geschichte von der „Pest“ der Philister im ersten Buch Samuel eine Fülle medizinischer Details, die bei oberflächlichem Lesen eine moderne Diagnose geradezu herausfordern. Thukydides, der selbst erkrankt war, schildert eine hochfieberhafte, mit einem Hautausschlag einhergehende Krankheit, die den gesamten Körper vom Kopf bis zu den Akren (den äußeren Extremitäten) durchwan‧derte und häufig tödlich endete. Die eindrucksvolle Symptomatik hat seit Beginn des mikrobiologischen Zeitalters eine fast unübersehbare Zahl moderner Deutungsversuche hervorgebracht. Sie reichen von eher konventionellen Diagnosen wie Pocken oder Fleckfieber bis hin zu exotischen Vorschlägen wie Tularämie („Hasenpest“), Rift-Valley-Fieber oder neuerdings Ebola und AIDS.

Eine retrospek‧tive Diagnose bleibt bei der attischen „Pest“, ebenso wie bei anderen historischen Krankheitsschilderungen, spekulativ. Die „Pest“- Schilderung des Thukydides ist keine medizinische Datensammlung, sondern literarisch sti-lisiert. Sie ist daher in ihrem zeitgenössischen Kontext zu analysieren; hierzu gehört auch, das medizinische Denken des Thukydides, wie es insgesamt in seinem Werk deutlich wird, zu erfassen und mit zeitgenössischen Vorstellungen in Beziehung zu setzen. Hingegen ist ein Vergleich des Textes mit einem modernen medizinischen Werk methodisch so angemessen wie der sprichwörtliche Vergleich zwischen Äpfeln und Birnen. Es ist bezeichnend, dass sämtliche modernen Diagnosten bei der Deutung des thukydideischen Textes auswahlweise vorgehen, indem sie nur Angaben verwenden, die ihrer Diagnose entgegenkommen, widersprechende oder unklare Aussagen aber beiseite lassen…

Literatur: Karl-Heinz Leven, Geschichte der Medizin. Von der Antike bis zur Gegenwart. München 2008.

Prof. Dr. Karl-Hein Leven

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♦ Chon|drit  〈[çn–] m. 16; Geol.; Min.〉 Steinmeteorit, dessen Grundmasse aus Olivin, Orthopyroxen, Nickel–Eisen od. (selten) aus Glas besteht

♦ Die Buchstabenfolge chon|dr… kann in Fremdwörtern auch chond|r… getrennt werden.
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