Mitte des 1. Jahrhunderts: Voll beladene römische Lastschiffe fahren stromabwärts durch eine von einem verzweigten Fluß geprägte Landschaft. Die Ufer sind mit dichtem Weidengebüsch und Auenwäldern aus Eschen und Ulmen bestanden, Feuchtwiesen wechseln mit kleinen Waldgebieten aus Buchen mit Eichen, Linden, Ahornbäumen und viel Unterwuchs. Nur wenig weist auf die Bewohner dieser Landschaft hin: einzelne kleine Gehöfte aus niedrigen Fachwerkbauten, Rinder, Schafe und Ziegen, und einige Felder, auf denen Getreide oder Hülsenfrüchte angebaut werden.
Auf der nahe dem Rhein gelegenen eiszeitlichen Moräne ist ein großes Militärlager zu erkennen. Es ist weitgehend aus Holz gebaut und von einem Wall mit davor liegendem Graben geschützt. Vor den Toren dieses Kastells liegt das Lagerdorf, das auch Wirtshäuser und Werkstätten beherbergt. Ein Stück flußabwärts auf einer Niederterrasse liegt eine weitere Siedlung. Das Flußufer ist befestigt, und der Rheinarm bildet einen günstig gelegenen Hafen. Hier werden kastenartige Lastschiffe mit wenig Tiefgang und schrägem, flachem Bug und Heck entladen.
Sie bringen Steine und Baumaterial für den Ausbau des Kastells, aber auch Waren aus Spanien und Rom – hauptsächlich Weinfässer und Ölamphoren, zudem Luxusgüter, so etwa die Bronzefigur eines Knaben aus stadtrömischer Produktion. Diese wertvolle Fracht ging beim Ausladen über Bord – Schiffer fanden sie im 19. Jahrhundert im Rhein.
Die kleine Szene verarbeitet unser aktuelles Wissen über das Umland der heutigen Stadt Xanten zu Beginn der römischen Besiedlung. Die Soldaten bauten ihr Lager in einer wirtschaftlich unterentwickelten Gegend mit wenig ertragreichen, oft feuchten Böden. Das mit zwei Legionen besetzte Militärlager war ein strategischer Stützpunkt, von dem aus zunächst auch Feldzüge in rechtsrheinisches Gebiet unternommen wurden. Im Lauf der Zeit wurde das Lager ausgebaut, und man erstellte großzügige Wohnanlagen für die Offiziere und Kommandanten beider Legionen. Beim Bataver-Aufstand 69/70 n.Chr. wurde das Doppellegionslager vollständig zerstört. Kurz darauf entstand weiter östlich ein kleineres Lager.
Parallel zum militärischen Ausbau entwickelte sich die zivile Siedlung am Rheinufer, zunächst als Warenumschlagplatz in der Nähe des Rheinhafens. Während die Bedeutung des Militärlagers nach dem Aufstand stark nachließ, blühte die Siedlung am Rheinufer auf. Unter Trajan wurde sie um 100 sogar zur colonia erhoben und erhielt den Namen Colonia Ulpia Traiana (kurz: CUT).
Aus der Legion entlassene Soldaten bekamen am Ende ihrer Dienstzeit oft ein Stück Land zugeteilt; dadurch sicherte Rom die eroberten Gebiete und trug zu deren Romanisierung bei. So siedelten sich viele Soldaten mit ihren Familien in der CUT an. Die Armee beschäftigte zudem Architekten, Vermessungstrupps und andere Spezialisten, die auch in Friedenszeiten für den Bau von Lagern und Transportwegen benötigt wurden…
Iris Martin