Die Weimarer Republik gilt als eine „Republik ohne Republikaner“. Ein solches Urteil ist sicher nicht falsch; dennoch wurden gerade die Kultur und Literatur der Jahre zwischen 1918 und 1933 von einer linksbürgerlichen Intelligenz getragen, die gegen die Kontinuitäten in Politik, Militär und Justiz anschrieb, die es zwischen dem Kaiserrreich und der Republik gegeben hat und die letztlich zum Scheitern von Weimar führten. Dafür stehen unter anderen Heinrich Mann, Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Bertolt Brecht, Erich Kästner, Hans Fallada, Hermann Kesten, Erich Maria Remarque, Kurt Tucholsky, Annette Kolb, Ernst Toller, Walter Hasenclever, Arnold Zweig, Erik Reger und Carl von Ossietzky.
Es dürfte diese grundsätzlich offene Haltung gegenüber der republikanisch-demokratischen Staatsform gewesen sein, die die Weimarer Republik zu einer innovativen literarischen Epoche und zu einer der spannungsreichsten und produktivsten Phasen deutscher Kulturgeschichte im 20. Jahrhundert gemacht hat: Der demokratische Aufbruch ermöglichte die Vielfalt des kulturellen Lebens gleichermaßen wie eine Modernisierung der Literatur. Kommt dem viel- zitierten Begriff von den „Goldenen Zwanzigerjahren“ überhaupt Relevanz zu, dann für den kulturellen und literarischen Bereich. Entfaltete sich doch im Klima und politischen System der Republik nach dem Ende des Ersten Weltkriegs eine Kultur, die für die Literatur des 20. Jahrhunderts von kaum zu überschätzender Bedeutung ist.
Das „goldene“ benennt in diesem Zusammenhang jene Schübe der ästhetischen Innovation und literarischen Modernisierung, die noch für das heutige Kunstverständnis grundlegend sind. Insbesondere der nach 1920 einsetzende Prozess der Demokratisierung der Gesellschaft leitete auch eine Demokratisierung von Kunst und Literatur ein. Diese wiederum war die Basis für ein neues Literaturverständnis sowie für die Entwicklung neuer Schreibweisen und Genres.
Dabei ist auch auf die Vielzahl weiblicher Autoren zu verweisen. In keiner anderen literarischen Epoche gab es so viele Autorinnen: Neben älteren konservativen Schriftstellerinnen wie Clara Viebig, Gabriele Reuter, Rahel Sanzara, Elisabeth Langgässer und Ina Seidel schrieben in den 20er Jahren Marieluise Fleißer, Vicki Baum, Irmgard Keun, Anna Seghers, Mascha Kaléko, Gabriele Tergit, Gertrud Kolmar, Ruth Landshoff-York, Maria Leitner, Grete von Ur‧banitzky, Hilde Maria Kraus, Christa Anita Brück, Clara Ratzka und Clara Hofer – um nur die bekanntesten zu nennen. Ursache für diese starke Präsenz von Frauen in der literarischen Szene der Weimarer Republik dürften zum einen die nach 1920 einsetzenden Demokratisierungsschübe sein, die neue staatspolitische Rechte, aber auch andere Lebensformen und ein sich wandelndes Frauenbild mit sich brachten. Zum anderen dominierte im gesamten Verlauf der Weimarer Republik mit der Neuen Sachlichkeit eine Ästhetik, die Autorinnen und offenbar auch einem spezifisch weiblichen Schreiben entgegenkam.
Das Ende des Ersten Weltkriegs und die Etablierung der Republik markierten eine mentalitäts- und sozialgeschichtliche Zäsur, die auch für die Literatur folgenreich war. Der Zusammenbruch des wilhelminischen Kaiserreichs brachte sicherlich nicht den radikalen Bruch mit literarischen Traditionen und Konventionen; die Literatur der 20er Jahre ist durch Konstruktionen von Modernität, aber auch durch die Gegenkräfte der konservativen Revolution gekennzeichnet. Die für die 20er Jahre typische Kollision unterschiedlicher politischer Systeme, Kulturen und Mentalitäten, von literarischer Tradition und ästhetischer Innovation spiegelt sich in der Wahl unterschiedlicher Genres. Dabei avancierten der historische Roman und die Essayistik (Ernst Jünger, Rudolf Borchardt, Hugo von Hofmannsthal, Stefan Zweig, Gottfried Benn) zu den beliebtesten Genres der traditionell-konservativen, aber auch der reaktionären Literatur. Demgegenüber favorisierten die jungen Autoren und Autorinnen der neusachlichen Avantgarde Zeitroman und Zeitdrama mit einer deutlichen Fixierung auf das zeitgenössische und hier vornehmlich auf das großstädtische Lebensumfeld…
Prof. Dr. Sabina Becker