„Wie hätte ich die City verlassen können, ohne ihren wahren Lion [englischer Ausdruck für jedes in seiner Art Außerordentliche], ihren Beherrscher – mit einem Wort: Rothschild, besucht zu haben.“ Dies schrieb Hermann Fürst von Pückler-Muskau im Dezember 1826 zum Abschluß seines London-Aufenthalts ins Tagebuch seiner mehrjährigen England-Reise. Der deutsche Adlige, der Nathan Rothschild nicht zuletzt besuchte, um seine Reisekasse durch Einlösung eines Kreditbriefs aufzufüllen, zeigte sich sehr beeindruckt von der Begegnung. Nathan war in der Tat ein Mann der Superlative. Der Sproß aus der Frankfurter Judengasse war sicherlich weltweit der bedeutendste Financier in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Nathan wurde 1777 als dritter Sohn des Frankfurter Münzhändlers und Kaufmanns Mayer Amschel Rothschild geboren und griff, wie seine vier Brüder, bereits als Jugendlicher aktiv in das Familiengeschäft ein. Im Alter von 21 Jahren schickte ihn der Vater – andere Berichte gehen von einer Eigeninitiative Nathans aus – nach Großbritannien. Nach einem kurzen Aufenthalt in London ließ er sich in Manchester nieder, um dort den familiären Tuchhandel unter Ausschaltung teurer Mittelsmänner selbst zu überwachen. Siegmund Geisenheimer, ein bewährter Buchhalter aus dem Frankfurter Stammhaus, und 20 000 Pfund Sterling Kapital halfen dem jungen Mann, sich schnell in der Stadt zu etablieren.
Nathan war einer von Dutzenden deutscher Kaufleute, die sich zu dieser Zeit in der boomenden nordenglischen Metropole niederließen. Wie die meisten von ihnen sprach er nur einige Brocken Englisch. Durch harte Arbeit und einen untrüglichen Sinn für das Geschäft hatte er rasch Erfolg. Für einen Tuchhändler war es zum einen entscheidend, den Bedarf und den Geschmack auf dem Kontinent richtig einzuschätzen. Zum anderen festigte Nathan seine Position auf dem Markt, indem er Rechnungen sofort bezahlte. So erwarb er sich einen guten Ruf und einen noch besseren Kredit bei seinen Lieferanten. Innerhalb der nächsten Jahre verdreifachte er sein Stammkapital und belieferte seine Frankfurter Familie mit English goods, nach denen große Nachfrage bestand.
Schon nach wenigen Jahren begann Nathan Rothschild, seine Fühler nach London auszustrecken, vor allem, weil er sich vom Kaufmann zum Financier zu wandeln begann. Nur in der britischen Hauptstadt waren die wirklich großen Geschäfte im Bankwesen zu machen. Im Jahr 1808 siedelte Nathan auf Dauer nach London über, aber bereits zwei Jahre zuvor hatte er einen entscheidenden Schritt getan, um sich in der Geschäftswelt der Metropole zu etablieren: Er heiratete Hannah Cohen, die Tochter seines Londoner Kunden Levi Barent Cohen, eines der einflußreichsten Bankiers des Landes.
Nathan heiratete Hannah sicherlich vorrangig aus geschäftlichen Erwägungen. Dennoch wurde es eine außerordentlich harmonische Ehe, und der Bankier liebte und verehrte seine Frau über alle Maßen. Die Verbindung verschaffte ihm Eintritt in die zwar kleine, aber bedeutende Gemeinde jüdischer Finanzoligarchen der Hauptstadt, die alle miteinander verwandt waren. Nathan machte – wie auch die anderen Mitglieder der Familie Rothschild – generell keinen Unterschied hinsichtlich der Religion seiner Geschäftspartner; Juden wie Nicht-Juden wurden nach ihrer individuellen Vertrauens- und Kreditwürdigkeit bewertet. Dies galt aber nicht für den privaten Bereich. Im frühen 19. Jahrhundert unterhielten nahezu alle Rothschilds persönliche Kontakte ausschließlich mit Juden. Teilweise ergab sich dies aus einer antijüdischen Diskriminierung durch ihre Umgebung, teilweise war die Abkapselung aber auch gewollt – besonders bei den Heiratsplänen. Von den sieben Kindern Nathans und Hannahs heirateten sechs ihre Cousinen. Nur eine der Töchter, Hannah Mayer, verband sich gegen den massiven Widerstand ihrer Eltern mit einem Christen. Obwohl Henry FitzRoy, der Sohn des Earl von Southampton, ein Sproß aus bestem britischem Adel war, wurde die Tochter für zehn lange Jahre von ihrer Familie ausgestoßen.
In London befaßte sich Nathan zunächst unter anderem mit dem Edelmetallhandel und knüpfte dadurch wichtige Kontakte zur Regierung. Das Kapital aus der väterlichen Firma, die in Frankfurt äußerst profi?tabel lief, half ihm, ein größeres Segment des britischen Markts zu besetzen. Seine persönlichen Qualitäten als zuverlässiger Geschäftsmann taten ein übriges. „N M Rothschild“ war dennoch nur eine unter diversen bedeutenden Merchant Banks (Geschäftsbanken) am wichtigsten Finanzplatz des 19. Jahrhunderts, doch sollte sie ihre Konkurrenten in den folgenden Jahren schnell überflügeln…
Dr. Rainer Liedtke