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Metropole der Welt – und des Verbrechens

Kriminalität in London

Metropole der Welt – und des Verbrechens
Im Jahr 1800 veranschlagte eine Untersuchung die Zahl der Londoner, die von „kriminellen, illegalen oder unmoralischen Tätigkeiten“ lebten, auf zehn Prozent der Einwohner. Die Verunsicherung, die von der Zunahme der Kriminalität ausging, war groß, und der Staat mußte darauf reagieren.

Der Tourist, der in den Sommermonaten aus der Londoner U-Bahn-Station „Baker Street“ aussteigt, betritt Sherlock-Holmes-Land. Am Ausgang des Bahnhofs steht ein leibhaftiger Sherlock Holmes, mit Mantel, Hut und Pfeife. Er wirbt für das „Sherlock-Holmes-Museum“ in der Baker Street Nr. 221 B. Dort, in dem schmalen viergeschossigen Haus, so heißt es auf der blauen Plakette über dem Eingang, habe der berühmte Mann gewohnt: „consulting detective, 1881–1904“. Schräg gegenüber lockt der Souvenirladen der „Sherlock Holmes Memorabilia Company“ die Besucher an. Nicht weit entfernt bietet das „Sherlock Holmes Hotel“ seine Dienste an. Hier also, stellen die Besucher zufrieden fest, hat der legendäre Mann gelebt, von hier aus hat er die raffiniertesten Verbrechen aufgeklärt. Auf seinen Scharfsinn war es zurückzuführen, daß die Londoner Kriminellen auf der Hut sein mußten.

Sherlock Holmes und sein Begleiter Dr. Watson verkörperten für das lesende Publikum die strafende Gerechtigkeit in einer von Verbrechen bedrohten Welt. Ihnen, weniger den angeblich so tolpatschigen Polizeibeamten, verdankten es die Bürger und Besucher Londons, daß sie sich in der wuchernden Riesenstadt halbwegs sicher fühlen konnten. Erklärt die Schilderung des Grauens in den Romanen von Arthur Conan Doyle die anhaltende Faszination einer Figur, die es in der Wirklichkeit nie gegeben hat? Oder vermittelt der kriminalistische Spürsinn des Superdetektivs angesichts überall lauernder Bedrohungen vor allem ein Gefühl von Sicherheit? Die Romanfigur als Beruhigungsmittel für das verängstigte Individuum im Dschungel der Großstadt?

Schon um 1800 hatte die Einwohnerzahl Londons die Millionengrenze überschritten. 100 Jahre später lebten in der Metropole des Empire mehr als sechsmal so viele Menschen. Mit Staunen, aber auch mit Ratlosigkeit und Erschrecken beobachteten die Zeitgenossen das Auswachsen der Stadt zur größten Bevölkerungsagglomeration der Welt. Besucher waren überwältigt von ihrer schieren Größe. London – das war für sie eine Stätte der Entsittlichung, in der das Böse an allen Ecken und in allen engen Gassen nistete. London – Metropole des Verbrechens in allen seinen Formen.

Schon deshalb war die große Stadt auch ein Brennpunkt des Verbrechens, denn die enorme Zusammenballung von Menschen ließ die Kriminalitätsrate unweigerlich emporschnellen. Sicher, bestimmte Verbrechen geschahen auf dem Land genauso wie in den Städten: Mord aus Jähzorn oder Eifersucht, Betrug, Diebstahl oder Einbruch. Aber im London des 19. Jahrhunderts waren solche Delikte an der Tagesordnung. Wie oft berichteten die Zeitungen von einer Leiche in der Themse, die nie identifiziert werden konnte, oder von brutalen Raubüberfällen! Überdies umgab das Verbrechen in der anonymen Großstadt, wo die soziale Kontrolle viel schwächer war als auf dem Land, eine besondere Aura. Das Verbrechen, das in einem dunklen Hinterhof Londons verübt wurde, beschäftigte die Phantasie stärker als der Raubüberfall oder der schnell aufgeklärte Totschlag am Rand irgendeines schläfrigen Dorfs.

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Die Ängste des Stadtbewohners, zumal des Londoners, wurden auch bewußt geschürt. Dafür war nicht nur die Presse verantwortlich, die von spektakulären Kriminalfällen berichtete, sondern auch eine populäre Schock- und Horrorliteratur, deren Schauplätze bevorzugt in London angesiedelt waren. Selbst einige der vielgelesenen Romane von Charles Dickens spielen im kriminellen Milieu Londons. Die meist wohlsituierten Leser konsumierten sie mit Schaudern. Die Gegenüberstellung der Welt draußen und der Welt im eigenen, vermeintlich sicheren Heim („my home is my castle“) scheint Teil des Erfolgsrezepts nicht nur des Großschriftstellers Dickens gewesen zu sein. So verfestigte sich im 19. Jahrhundert ein Image Londons, das die suggestiven Bildern des französischen Illustrators Gustave Doré oder die dramatischen Reportagen des Journalisten Henry Mayhew weiter ausmalten. Beide schilderten eine Welt, die dem bürgerlichen Lesepublikum weitgehend unbekannt war: das Londoner East End, die Slums, die „Unterwelt“.

In Mayhews Sozialreportagen, die 1861/62 unter dem Titel „London Labour and the London Poor“ (Die Arbeiter und die Armen von London) veröffentlicht wurden, werden nahezu alle Facetten der Lebensbedingungen der Unterschichten vorgeführt – und die Verbrechen, mit denen der Ahnungslose und Unvorsichtige überall in der Stadt rechnen mußte. „Straßenraub wird auch mittels Würgen ausgeführt“, berichtet Mayhew. „Er wird bei Einbruch der Dunkelheit, häufig in nebligen Nächten … begangen. Im allgemeinen führt man in auf Nebenstraßen und im Winter aus. Ein Schurke kommt daher und schlingt seinen Arm um den Hals einer Person, die eine Uhr besitzt oder die … Geld bei sich trägt. Ein Mann hält das Opfer am Hals fest – er greift im allgemeinen von hinten oder von der Seite an. Der Würger versucht, mit dem Arm unter das Kinn zu kommen…, während er mit der anderen Hand den Nacken fest umklammert hält… In der Position hält er ihn vielleicht ein oder zwei Minuten, während seine Komplizen, einer oder mehrere, Uhr oder Geld aus der Tasche rauben. Sollte sich der Betreffende wehren und Widerstand leisten, wird er so heftig am Hals gewürgt, daß er bewußtlos werden kann. Ist der Raub durchgeführt, nehmen sie Reissaus.“ …

Prof. Dr. Peter Alter

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