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Mord im East End

Jack the Ripper

Mord im East End
Die Opfer waren fünf Frauen. Bis auf die letzte waren sie in ihren Vierzigern und vom Leben hart gezeichnet. Der Tod des Ehemanns, Scheidung oder Trennung, in der Folge Armut und Alkohol hatten sie aus der Bahn geworfen. Die Morde sind bis heute ungeklärt.

London, ein warmer Sommerabend Anfang Juni, Tower Hill Station. Touristen strömen aus der U-Bahnstation, um sich dem süßen Schauer des Grauens hinzugeben. Sie wollen auf den Spuren von Englands berühmtestem Serienmörder wandeln – Jack the Ripper. Über 400 Menschen zieht es an diesem Abend an die Originalschauplätze seiner Verbrechen. Und wie kein zweiter versteht es Donald Rumbelow, seit 25 Jahren führender ‚Ripperologe‘, seine Zuhörer in Bann zu ziehen. Die Kombination von Sex and Crime – alle fünf Opfer waren Prostituierte – garantieren der Tour seit Jahren einen enormen Zulauf. Mit der jüngsten Ripperverfilmung “From Hell” mit Jonny Depp als opiumsüchtiger, depressiver Inspector Abberline und Heather Graham als schöner Prostituierte Mary Kelly hat Hollywood den Besucherstrom zusätzlich angeheizt (auch wenn der Film in Prag gedreht wurde). Donald Rumbelow hat gemischte Gefühle, wenn er an den Film denkt: Nun gelte es jedesmal gegen die Filmversion anzureden. Nein, antwortet er auf eine Frage aus dem Publikum, Jack the Ripper habe seine Opfer nicht mit Trauben angelockt – das sei die Hollywood Version; man wisse überhaupt nichts über die Art, wie er sich seinen Opfern genähert habe. Und ein noch viel entscheidenderer Nachteil im Vergleich zum Film: Man könne bis heute keinen Täter präsentieren.

Mit ihren Bürogebäuden und schicken Restaurants zeigt die Gegend um Whitechapel heute nur noch an wenigen Stellen Ähnlichkeit mit den engen und verwickelten Gassen des alten East Ends, Londons Slum- und Elendsviertel im späten 19. Jahrhundert. Zur Zeit der Rippermorde hatte London weltweit noch immer die meisten Einwohner, entsprechend hoch war die Bevölkerungsdichte in Whitechapel. Ungefähr zwei Millionen Menschen, so wird geschätzt, lebten dort unter denkbar schlechtesten Bedingungen. Kellerräume ohne Tageslicht wurden nicht selten von einer sieben- oder achtköpfigen Familie bewohnt, manchmal gesellten sich Haustiere wie Hühner und Ziegen dazu. Die hygienischen Bedingungen waren katastrophal. Fließendes Wasser gab es täglich nur für zehn bis 15 Minuten aus öffentlichen Brunnen, sonntags überhaupt nicht. Krankheiten und hohe Kindersterblichkeit waren die Folge. Sozialreformer wie Charles Booth und das Ehepaar Sidney und Beatrice Webb prangerten die Zustände an: Nicht weil die Menschen böse, sondern weil sie verzweifelt und hungrig seien, stünden Trunksucht, häusliche Gewalt und Beschaffungskriminalität auf der Tagesordnung. In einem solchen System waren Frauen (und Kinder) die schwächsten Glieder. Aus ihrem Kreis stammten die Opfer von Jack the Ripper.

Für Frauen, die auf sich allein gestellt waren, war Prostitution eine relativ gängige Art Geld zu verdienen, jedenfalls war sie besser bezahlt als die Zwangsarbeit in Arbeitshäusern. Da Prostituierte in den Straßen nicht stehen bleiben durften, um nicht wegen soliciting (dem Anwerben von Freiern) angezeigt zu werden, zogen sie auf der Suche nach Kundschaft jeden Abend von Kneipe zu Kneipe, etwa in das “Ten Bells”. Dabei wurde reichlich Gin konsumiert, um die Situation erträglicher zu machen. Alle fünf Ripper-Opfer galten als starke Trinkerinnen.

Die meisten Prostituierten des East Ends besaßen kein eigenes Zimmer, sondern lebten auf der Straße. Geschlafen wurde in Obdachlosenheimen oder öffentlichen Schlafhäusern (Lodging Houses), von denen es in Londons Osten ungefähr 200 bis 300 gab. 8–9000 Menschen suchten jeden Abend hier unterzukommen. Ein Einzelbett kostete acht, eine mit anderen geteilte Schlafstelle vier, das Schlafen im Sitzen (auf einer Holzbank, mit einem Seil festgebunden) einen Pence. Zwei bis drei Pence verdiente eine Prostituierte pro Kunde, oft war ihr die Zahlung in Naturalien, etwa in Form eines Brotlaibs, lieber. Adrett, sauber und schön wie Heather Graham im Film waren die realen Prostituierten des East Ends nicht. Was sie besaßen, trugen sie am Leib: mehrere Unterhemden und zwei bis drei Röcke übereinander halfen gegen Kälte und Feuchtigkeit, feste Männerstiefel waren die angemessene Fußbekleidung, nicht nur zum (Weg-) Laufen, sondern auch zum Treten, wenn man sich gegen schlechte Kundschaft oder weibliche Konkurrenz zur Wehr setzen mußte.

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Doch mochte Gewalt zum Alltag im East End gehören, Morde waren eher selten. Nur ein bis zwei Morde pro Jahr hatte die zuständige Metropolitan Police vor und nach dem “Terror-Herbst” aufzuklären. Die Ripper-Hysterie, die 1888 ganz London erfaßte, erklärt sich nicht nur aus der Perversität der Verbrechen, sondern auch daraus, daß innerhalb von nur zwei Monaten fünf Frauen umgebracht wurden.

Am 31. August 1888 schlug das – zunächst namenlose – Monster das erste Mal zu. Zwei Arbeiter entdeckten am frühen Morgen den leblosen Körper einer Frau in Bucks Row. Als Police Constable John Neil sie mit seiner Lampe näher untersuchte, mußte er eine grauenhafte Entdeckung machen: Der Frau war die Kehle bis auf die Halswirbel durchtrennt worden. So wie sie dalag, mit hochgeschlagenen Röcken und gespreizten Beinen, deutete alles auf eine Vergewaltigung hin. Das Gesicht wies zahlreiche Verletzungen auf; bei der anschließenden Obduktion entdeckte man, daß in den gesamten Bauchraum wahllos eingestochen worden zu sein schien. Niemand sei jemals grausamer ermordet worden als Mary Ann Nicholls, schrieb am nächsten Morgen “The Star”. Man hatte sie zuletzt gesehen, als sie die Kneipe “Frying Pan” verließ, um in einem nahe gelegenen Lodging House ein Bett für die Nacht zu finden. Da ihr das nötige Geld fehlte, mußte sie erneut auf die Straße. Selbstbewußt verkündete sie ihre baldige Rückkehr, ein Kunde werde sich sicher noch finden lassen – gerade hatte sie einen neuen Hut erworben und glaubte sich besonders attraktiv. Auf ihrem nächtlichen Streifzug lief sie dann ihrem Mörder in die Arme. Die Polizei stand vor einem Rätsel. Ein Motiv für die Tat war nicht auszumachen. Raub oder Eifersucht waren ganz offensichtlich auszuschließen. Vielleicht, so wurde spekuliert, war Nicholls, wie zwei Prostituierte vor ihr, das Opfer einer Bande geworden, die Prostituierte terrorisierte, wenn diese nicht einen Teil ihres Verdienstes an sie abtraten. Doch der Mord an Nicholls war anders. Die Verstümmelung des toten Leichnams paßte nicht ins Bild. Von einem Verdächtigen fehlte jede Spur…

Sabine Freitag

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