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Ohne jegliche Ordnung

Thukydides und die Pest in Athen

Ohne jegliche Ordnung
Im 5. Jahrhundert v. Chr. wurde Athen von einer Epidemie heimgesucht, die mit einer hohen Sterblichkeitsrate einherging. Der Geschichtsschreiber Thukydides hat die Krankheit und ihre Folgen genau beschrieben. Doch sein Werk ist keine reine Faktendarstellung, sondern hatte auch eine aktuelle gesellschaftspolitische Botschaft.

Im Jahr 429 v. Chr. lag der athenische strategós Perikles auf dem Totenbett. Nachdem die „Pest“ zuvor bereits zahlreiche seiner Angehörigen und Freunde dahingerafft hatte, unter anderen zwei Söhne und seine Schwester, hatte sie jetzt auch den damals prominentesten Athener selbst erfasst. Gut zwei Jahrzehnte lang hatte Perikles die Politik Athens maßgeblich bestimmt; zuletzt hatte er die Stadt und ihre Verbündeten in einen mörderischen Krieg mit Sparta und seinen Alliierten geführt. Dieser sogenannte Peloponnesische Krieg, ausgebrochen im Jahr 431, sollte sich bis zum Zusammenbruch Athens im Jahr 404 ziehen. Ursprünglich war das natürlich mitnichten so geplant – ganz im Gegenteil: Perikles soll die Athener unter anderem deshalb davon überzeugt haben, der ohnehin unvermeidbare Konflikt müsse jetzt und zu keinem anderen Zeitpunkt ausgetragen werden, weil er einen Kriegsplan entwickelt hatte, der ihnen den Sieg garantieren sollte.

Alle Einwohner der Landschaft Attika sollten diesem Plan zufolge in das befestigte Stadtzentrum Athen evakuiert werden, so dass die spartanischen Einfälle in attisches Gebiet ins Leere zielen mussten. Gleichzeitig sollte die als unbesiegbar geltende athenische Flotte durch Angriffe auf die Küsten der Peloponnes gezielte Nadelstiche setzen und die Spartaner damit zermürben. Ein erfolgreicher Abschluss des Waffengangs, so die Erwartung, wäre dann nur noch eine Frage der Zeit. Allein: Perikles hatte nicht mit den Unvorhersehbarkeiten gerechnet, die jeder Krieg mit sich bringt. Schon rasch sollte sich erweisen, dass nichts so lief, wie die Zeitgenossen es erwartet hatten – weder auf athenischer noch auf spartanischer Seite. Stattdessen sorgte eine Kette von Zufällen und unvorhergesehenen Ereignissen dafür, dass sich die militärische Auseinandersetzung immer weiter in die Länge zog und zum ersten „Weltkrieg“ der Antike auswuchs.

Diese Entwicklung hat Thukydides minutiös nachgezeichnet, und der zeitgenössische Historiker war auch der Erste, der dem Moment des Unplanbaren, des plötzlich Geschehenden, des für Menschen nicht mehr Verfügbaren eine zentrale Bedeutung im historischen Prozess zuwies. Seine Hauptthese lautete, dass menschliches Handeln grundsätzlich von konstanten Parametern gesteuert werde, von Affekten und Triebkräften wie Ehr- und Gewinnsucht, Hoffnung und insbesondere Furcht. Allein die Rahmenbedingungen veränderten sich stets auf unvorhersehbare Weise – vor allem in Extrem‧situationen wie Kriegen. Dadurch komme es dann zu spezifischen Verhaltensmustern, die zu studieren sich lohne, weil so letztlich die Möglichkeit geschaffen werde, menschliches Verhalten in vergleichbaren Situationen vorauszusagen.

Exakt aus diesem Grund will Thukydides sein Geschichtswerk über den Peloponnesischen Krieg verfasst haben, und eines der Experimentierfelder, mit denen er sich dabei besonders intensiv beschäftigte, waren die Folgen der „Pest“, die im Jahr 430 in seiner Heimat Athen ausbrach. Auf diese Art und Weise hat Thukydides ein meisterhaftes Lehrstück über menschliches Handeln in einer existentiellen Bedrohungslage hinterlassen. Um seiner „Pest“-Beschreibung eine entsprechende Wirkung zu verleihen, hat er sie überdies gezielt literarisch stilisiert, auch unter bewusster Inkaufnahme sachlicher Un-korrektheiten, wie der chronologischen Zusammenhänge. Ein mit großem Nachdruck verfolgtes inhaltliches Anliegen und ein hoher Grad an literarischer Durcharbeitung kennzeichnen also seine Darstellung. Dadurch konnte das Werk zu einem der faszinierendsten Texte der antiken Literatur avancieren, der nachhaltige Wirkungen hinterlassen hat und als Hintergrundfolie bei zahllosen späteren Pest-Beschreibungen bis in die Neuzeit mitgedacht werden muss.

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Dabei können die auf die „Pest“ bezugnehmenden Abschnitte des thukydideischen Geschichtswerks (Kapitel 2, 47–54) mit gutem Grund als Archetypus einer Seuchenbeschreibung angesehen werden. Dadurch wurde diese Passage aber auch zu einem Text, der ein erhebliches Maß an sachlichen und inhaltlichen Problemen aufwirft, mit denen die althistorische und philologische Forschung seit Jahrzehnten ringt. Letztendlich zielt die Kernfrage auf die Authentizität der thukydideischen Schilderung. Denn trotz aller literarischen Stilisierung bildet seine Darstellung im Grunde das einzige relevante Zeugnis zu den beschriebenen Ereignissen. Zwar wird auch andernorts auf die „Pest“ in Athen eingegangen, aber in diesen deutlich später entstandenen Texten stellt sich die Frage nach dem tatsächlichen Aussagewert umso dringlicher.

Das betrifft unter anderem die Beschreibung der letzten Stunden des Perikles durch den Biographen Plutarch (um 100 n. Chr.). Über lange Zeit soll sein Leiden sich hingezogen haben, so dass Perikles genug Gelegenheit erhalten habe, auf dem Totenbett mit Freunden und Anhängern gelehrte Gespräche zu führen, noch einige kluge Gedanken zu äußern und mit erinnerungswürdigen letzten Worten schließlich standhaften Sinnes zu verscheiden. All dies sind traditionelle Elemente, die für ein antikes Publikum den heroischen Tod eines Philosophen ausmachten. Die von Plutarch wiedergegebene Szene vermittelt also den Eindruck eines philosophisch gebildeten, unerschrockenen Politikers, der selbstverständlich ebenso aufrecht in den Tod geht, wie er zuvor gelebt hat. So erbaulich die Szene ausgestaltet ist, so fragwürdig ist ihr historischer Gehalt. Schon die Krankheitssymptome, die Plutarch beschreibt, passen nicht zum Verlauf der „Pest“, wie wir ihn der ausgesprochen exakten Beschreibung des Thukydides entnehmen können. Denn dieser spricht von einem eher plötzlich auftretenden Leiden und relativ raschen Krankheitsverlauf.

Was aber war genau geschehen, damals im Sommer des Jahres 430 v. Chr.? Thukydides berichtet, dass – wie schon im ersten Kriegsjahr – gleich zu Beginn des Sommers die Peloponnesier wieder in Attika eingefallen seien, um das Fruchtland zu verheeren. Unmittelbar darauf sei in Athen, wo sich die gesamte attische Landbevölkerung in engen, stickigen und dementsprechend unhygieni‧schen Behausungen eingezwängt sah, die Seuche ausgebrochen. Rasch sei deutlich geworden, dass weder Ärzte noch die Götter Abhilfe schaffen konnten – womit Thukydides gleich zu Beginn seiner Darstellung die traditionellen Nothelfer gegen Krankheiten regelrecht ausblendet. In Äthiopien sei die Epidemie ausgebrochen, habe sich von dort aus über Ägypten und das Perserreich ausgebreitet und sei schließlich auch nach Athen gelangt. Böse Stimmen behaupteten, die Spartaner hätten die attischen Brunnen vergiftet. Thukydides hält sich explizit an die Gesamtintention seines Geschichtswerks: Er will lediglich beschreiben, wie die Krankheit sich äußerte, und vor allem, wie sie wirkte – im medizinischen, religiösen und sozialen Bereich. Spätere Generationen könnten auf diese Weise aus dem Studium seines Werks ihre Lehren für ähnliche Situationen ziehen. Dass Thukydides geradezu prädestiniert war, die Seuche zu beschreiben, ist für ihn selbstverständlich, da „ich selbst krank war und selbst andere leiden sah“…

Literatur: Mischa Meier (Hrsg.), Pest. Die Geschichte eines Menschheitstraumas. Stuttgart 2005. Jürgen Grimm, Die literarische Darstellung der Pest in der Antike und in der Romania. München 1965. Thukydides, Der Peloponnesische Krieg. Stuttgart 2000.

Prof. Dr. Mischa Meier

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