Im 19. Jahrhundert und vor allem nach den zwei Opiumkriegen (1839 –1842 und 1856 – 1860) wurde die Situation Chinas in düsteren Farben beschrieben. Das Land galt als übervölkert. Der britische Ökonom Robert Malthus zeigte gern an seinem Beispiel die schrecklichen Folgen anhaltenden Bevölkerungswachstums auf. Man berichtete von Armut und Hunger. Manche rühmten zwar den Fleiß der Chinesen und bezeichneten einige Regionen als reich, doch war man sich weitgehend einig, dass China in einer misslichen Lage und im Vergleich zu der sich industrialisierenden westlichen Welt „rückständig“ war. Die Langlebigkeit seiner Institutionen galt als Zeichen von Unbeweglichkeit. Die Weigerung, sich ausländischen Ideen, Waren und Menschen zu öffnen – beispielhaft kam sie zum Ausdruck in einem Brief des Kaisers Qianlong an König Georg III., in dem er 1793 behauptete: „Wir benötigen keinerlei Waren aus anderen Ländern“ –, wurde als Beleg für chinesische Arroganz betrachtet und dafür, dass das Reich die Zeichen der Zeit und die Gesetze der Wirtschaft nicht verstand. Militärisch galt es als Koloss auf tönernen Füßen.
Bis zu einem gewissen Grad war das negative Bild Chinas im Westen eine Folge des Umstands, dass nun viele (private) Händler sowie Menschen mit einem militärischen Hintergrund ins Land kamen. Sie nahmen anderes wahr als die Jesuiten und Philosophen, die das frühere China-Bild geprägt hatten. Mit dem Aufkommen des Nationalismus und angesichts ihrer wachsenden wirtschaftlichen und militärischen Macht beurteilten die Europäer nun zudem ihre eigene Position in der Welt neu. Sogar Adam Smith (1723–1790) ging davon aus, dass China zwar immer noch als reich zu betrachten war, aber stagnierte und „das Maß an Reichtum erreicht hat, das ihm die Art seiner Gesetze und Institutionen erlaubte“. Die negativen Ansichten waren keineswegs völlig grundlos. Das Bevölkerungswachstum gab tatsächlich Anlass zu Sorge, und China brachte seinen eigenen „Malthus“ hervor: Hung Liang-chi (1746–1809). Wie die Probleme, den Großen Kanal, die mit 1800 Kilometern längste von Menschen geschaffene Wasserstraße, offenzuhalten oder den Gelben Fluss zu kontrollieren, zeigen, wurde es immer schwieriger – und teurer –, die Infrastruktur zu unterhalten. Die Möglichkeiten, Bewässerungssysteme zu verbessern, waren nahezu ausgeschöpft. Die Neigung zu Unruhen wuchs, und auch hierbei spielte Übervölkerung eine Rolle, vor allem in den Regionen, in denen die Han-Chinesen mit der Ursprungsbevölkerung um die knappen Ressourcen konkurrierten.
Es gab Anzeichen einer Überdehnung des Reichs. Der Staatsapparat war überlastet. Die Bevölkerung wuchs, die Fläche des Landes verdoppelte sich, es wurde immer komplexer – und doch veränderte sich die Zahl der Beamten und Soldaten seit dem Beginn der Qing-Herrschaft kaum. Die Steuern blieben niedrig. Die Mandschu-Herrscher, eine winzige Elite, wollten billig regieren; alles andere hätte in der Bevölkerung wohl heftigen Widerstand hervorgerufen. Folglich waren die Beamten zunehmend unterbezahlt und unterbesetzt, und es fehlten ihnen die Mittel, ihre Arbeit anständig zu verrichten. So verwundert es nicht, dass viele bestechlich wurden, öffentliche Aufgaben weitergaben oder sich einfach nicht mehr um „Peking“ scherten. Auch die Soldaten waren unterbezahlt, schlecht ausgebildet und schlecht bewaffnet. Kriegserfahrungen hatten sie seit den 1780er Jahren nicht mehr sammeln können. Das Land besaß keine nennenswerte Flotte. Das berühmte Speichersystem, das die Menschen in Zeiten der Dürre mit billigem Getreide versorgt hatte, befand sich in Auflösung.
Rund drei Viertel des Steueraufkommens stammte aus Grundsteuern, Einkünfte aus Verbrauchssteuern oder Zöllen gab es kaum. Die Handelsentwicklung wirkte sich dennoch auf die Staatsfinanzen und die Wirtschaft insgesamt aus. Jahrzehntelang hatte China mehr Silber im- als exportiert. Dies verkehrte sich seit den 1810er Jahren ins Gegenteil; Handelsbilanzdefizite waren die Folge. Obwohl im Alltag Kupfergeld in Gebrauch war, wurden Steuern weiterhin in Silber eingezogen – und je seltener Silber wurde, desto mehr erhöhten sich die effektiven Steuern. Viele konnten oder wollten sie nicht mehr zahlen. Viel Silber brauchte man, um in Indien Opium zu bezahlen. Die Zentralregierung stemmte sich gegen diesen Import, konnte ihn aber nicht stoppen. Als sie 1839 eine harte Haltung einnahm, kam es zum Krieg mit Großbritannien. Dieser Krieg ging verloren.
Qing-China war also geschwächt, noch bevor der Druck auswärtiger Mächte akut wurde. Die reichsten Regionen konnten ihren Wohlstand wohl bewahren, doch verloren sie gegenüber den ärmeren Regionen, die Menschen aus Chinas übervölkertem Kerngebiet aufnahmen, an Gewicht. Das Durchschnittseinkommen blieb bestenfalls stabil. Im Vergleich zum Westen wurde das Land ärmer und rückständiger.
Im 18. Jahrhundert war die Einschätzung Chinas überwiegend positiv. Seine Bevölkerung war riesig und wuchs rasch. Das galt als ein Zeichen von Wohlstand und Stärke. Für Adam Smith war es – trotz Armut der unteren Klassen und Stagnation – reicher als jede europäische Region. Seine Ausdehnung war gewaltig und wuchs weiter (im Verlauf des Jahrhunderts verdoppelte es seine Fläche). Es galt als beeindruckende Militärmacht. Man hielt es für gut regiert und bewertete seine Langlebigkeit und die seiner Institutionen positiv. Viele Europäer bewunderten das System eines „aufgeklärten Despotismus“, in dem qualifizierte Beamte die Hauptrolle spielten und die Regierung sich um „Kontrolle aus der Ferne“ bemühte, aber nicht einmischte. Der französische Ökonom François Quesnay (1694 –1774) soll sein Konzept des „Laissez-faire“ von den Chinesen übernommen haben. Die Chinesen selbst bezeichneten die Herrschaft der Kaiser Kangxi, Yongzheng und Qianlong als „das blühende Zeitalter“…
Literatur: André Gunder Frank, Reorient. Global economy in the Asian age. Berkeley / Los Angeles / London 1998. Jürgen Osterhammel, China und die Weltwirtschaft. Vom 18. Jahrhundert bis in unsere Zeit. München 1989. Kenneth Pomeranz, The Great Divergence. China, Europe and the making of the modern world economy. Princeton 2000. William T. Rowe, China’s last empire. The great Qing. Cambridge (Massachusetts) 2009. Peer Vries, Zur politischen Ökonomie des Tees. Was uns Tee über die englische und chinesische Wirtschaft der Frühen Neuzeit sagen kann. Wien / Köln / Weimar 2009.
Univ.-Prof. Dr. Peer Vries