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Schwere Geburt eines neuen Volkes

Die Integration der Vertriebenen

Schwere Geburt eines neuen Volkes
Die im Rückblich oft verklärte Integration der Vertriebenen in den beiden deutschen Staaten sowie in Österreich verlief alles andere denn konfliktfrei. Viele Vertriebene fühlten sich in ihrer neuen Heimat als Bürger zweiter Klasse.

Seit Januar 1945 war eine Arbeiterin aus dem ostdeutschen Sonnenburg mit ihren Kindern auf der Flucht gewesen und hatte 200 Kilometer zu Fuß zurückgelegt, bevor sie in Mecklenburg an Typhus erkrankte. Da war sie bereits auf dem enteigneten Gut Schönberg notdürftig untergekommen, wo sie sich nach sieben Wochen Krankenlager soeben erholte, als die Gutsverwaltung plötzlich unbezahlbare Geldforderungen wegen der Ernährung ihrer Kinder an sie richtete. Doch das im Januar gerettete Bargeld war der Vertriebenen auf der Flucht von fremden Soldaten hohnlachend zerschnitten worden, auf ihr gerettetes Sparkassenbuch erhielt sie kein Geld und würde noch lange keines erhalten. In Schönberg hatte man ihr Dachkammern als Bleibe zugewiesen, eher einem Stall als einem Wohnraum ähnlich, mit Fenstern ohne Scheiben, was die Gutsverwaltung jedoch nicht hinderte, eine nicht unbeträchtliche Monatsmiete zu verlangen. Noch höher waren die Wucherpreise für nahezu wertloses Heizmaterial. Den enteigneten Großgrundbesitz des Ortes hatten die Einheimischen allein unter sich aufgeteilt, was den Flüchtlingen und Vertriebenen erneut signalisierte, daß sie nur als geduldetes Lumpenpack angesehen wurden. Niemand unter ihnen verdiente mit Hilfsarbeiten so viel, daß man davon die geforderten Abgaben hätte entrichten können. Während der Erntearbeiten auf den Stoppelfeldern hatte sich die Sonnenburger Vertriebene ihre Schuhe ruiniert und mußte nun fürchten, im Winter barfuß dazustehen. Als sie von der Existenz einer Berliner Umsiedlerverwaltung hörte, die sich um Flüchtlinge kümmere, schrieb sie verzweifelt vom Krankenlager aus: „Wir glaubten, … nun endlich von der Straße zu deutschen Menschen zu kommen, dieweil wird uns hier das letzte Hemd ausgezogen.“

Die Verteibungsverbrechen, die seit 1945 an Millionen von Deutschen verübt wurden, waren nicht voraussetzungslos. Vielmehr schlug damals eine „Explosion von Rache und Gewalttätigkeit“ nach dem von Hitler begonnenen Krieg auf die Deutschen zurück (Martin Broszat). Allerdings zeigte die parallele Vertreibung anderer Nationalitäten in Osteuropa, daß die deutschen Verbrechen während des Zweiten Weltkrieges zwar die wesentliche, aber keineswegs die alleinige Ursache für die folgenden Massenvertreibungen gewesen sind. Vielmehr boten die Macht- und Ohnmachtskonstellationen gegen Ende des Krieges neue einseitige Chancen zur gewaltsamen Lösung langfristiger multinationaler Konfliktlagen durch ethnische Säuberungen; geostrategische Interessen Dritter (insbesondere der Sowjetunion) traten verstärkend hinzu.

Auf diese Weise zogen Diktaturen und Demokratien nach 1945 gleichermaßen die brutale Konsequenz, komplexe Bevölkerungsverhältnisse durch Vertreibung gewaltsam zu entflechten und zu homogenisieren. Innerhalb Europas übertraf das Ausmaß der Vertreibung der Deutschen nach 1945 alles bisher Dagewesene: Bis zu 15 Millionen Menschen waren von dieser ethnischen Säuberung betroffen, und in den aufeinander folgenden Phasen der Flucht, der Vertreibung und der Zwangsumsiedlung gelangten bis 1950 etwa zwölf Millionen Deutsche in das verkleinerte, besetzte und geteilte Deutschland sowie nach Österreich, das 1945 als eigener Staat wiederhergestellt worden war. Obgleich die massenhafte Vertreibung der Deutschen nach 1945 direkt oder indirekt Todesopfer in Millionenhöhe gefordert haben dürfte, wurde die Schwelle zum zielgerichteten Völkermord nicht überschritten.

Die große Mehrheit der rund zwölf Millionen registrierten Vertriebenen – 8,1 Millionen oder 63,5 Prozent – befand sich 1950 in der neu gegründeten Bundesrepublik Deutschland, ein knappes Drittel (4,1 Millionen) in der konkurrierenden Deutschen Demokratischen Republik. Nur kleine Gruppen hatten damals Aufnahme in Österreich (430000 oder 3,4 Prozent) gefunden oder nach Westeuropa bzw. nach Übersee auswandern können (120000 oder 0,9 Prozent).

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Die größten strukturellen Veränderungen waren in der Sowjetischen Besatzungszone erfolgt, denn mit 24,1 Prozent lag der dortige Vertriebenenanteil an der Nachkriegsbevölkerung deutlich höher als in Westdeutschland, wo er 1949 lediglich 15,7 Prozent betrug. Allerdings gab es auch im Westen deutliche regionale Unterschiede: Da die französische Besatzungsmacht in ihrer Zone die Aufnahme von Vertriebenen zu verhindern suchte, lag der Vertriebenenanteil in Rheinland-Pfalz 1952 mit 7,2 Prozent sogar niedriger als in zunächst verschonten Stadtstaaten wie Hamburg mit 8,6 Prozent. Demgegenüber war die Bevölkerung der Flächenstaaten der britischen Besatzungszone, in Schleswig Holstein (30,7 Prozent) und Niedersachsen (26,5 Prozent), ebenso durch überdurchschnittlich hohe Vertriebenenanteile geprägt wie jene der zur amerikanischen Besatzungszone gehörigen Länder Bayern (20,7 Prozent) und Hessen (17,2 Prozent). Auch in der sowjetischen Besatzungszone waren die regionalen Unterschiede erheblich und schwankten zwischen einem Vertriebenenanteil von 43,3 Prozent in Mecklenburg-Vorpommern bis zu 17,2 Prozent in Sachsen.

Die Vertriebenen wurden zunächst überwiegend in den weniger besiedelten, aber auch wirtschaftsstrukturell wenig entwickelten ländlichen Regionen untergebracht. Bereits seit 1946 machte sich allerdings ein Abwanderungstrend in Richtung Städte bemerkbar. Neben dieser überall stattfindenden Binnenwanderung spielte in der SBZ/DDR ab 1948 die Abwanderung in die Westzonen zunehmend eine Rolle. Obwohl es sich bei der Aufnahme von zwölf Millionen deutschen Vertriebenen aus Ostdeutschland und Osteuropa um eine erzwungene Wanderbewegung in das Gebiet des eigenen Volkes handelte, erinnerte zeitgenössische Beobachter vieles an eine Einwanderung unter fremde Völker. Der Konflikt zwischen vertriebenen und alteingesessenen Deutschen trug für manchen deutliche Züge eines Nationalitätenkampfe und eines Klassengegensatzes (Eugen Lemberg).

Das Schicksal der Sonnenburger Vertriebenen hat bereits gezeigt: Für viele Vertriebene war auf den Schock ihrer brutalen Vertreibung ein zweiter gefolgt – der Schock der Ankunftserfahrung, der in der tiefen Enttäuschung der ursprünglichen Erwartung bestand, unter deutschen Landsleuten solidarische Aufnahme zu finden. Statt dessen sahen sich Vertriebene von Alteingesessenen materiell und kulturell massiv diskriminiert. Lange Zeit herrschte unter Betroffenen der verbitternde Eindruck vor, im eigenen Land als Menschen zweiter oder dritter Klasse behandelt zu werden. Die staatlich geförderte westdeutsche Vertriebenenforschung stellte erst gegen 1960 eine allmähliche Auflösung der Fronten fest, die der Entstehung eines neuen Volkes aus Binnendeutschen und Ostvertriebenen gewichen seien…

Dr. Michael Schwartz

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