Erstaunlicherweise sind die von Deutschen errichteten Gebäude von den Auswüchsen der chinesischen Kulturrevolution (1966–1976) kaum berührt worden, wohl aber wurden sie, was die Bausubstanz anbelangt, seit der Gründung der Volksrepublik China stark vernachlässigt. Heute scheint es eine Art Renaissance des deutschen Architekturerbes zu geben. Chinesische Denkmalämter und ein gewachsenes historisches Bewußtsein tragen immer mehr dazu bei, die alten deutschen Bauten zu erhalten und (auch) für den Tourismus zu nutzen.
Im Zuge der (Halb)Kolonisierung Chinas waren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwei Kulturen aufeinandergetroffen, die auch in der Architektur diametral entgegengesetzt waren. Das zeigte sich besonders im sakralen Bereich. In China gab es keine Kirchtürme und zu Gott strebende Kathedralen, sondern hier wurde eher horizontal gebaut. Auch im profanen Bereich überwogen Flachbauten; Ausnahmen waren nur die herrschaftlichen Paläste sowie gewaltige Stadtmauern und -tore. Ebenso unterschieden sich die verwendeten Materialien grundlegend. Während in der abendländischen Kultur möglichst mit Stein gebaut wurde, bevorzugten Chinesen ungebrannte Lehmziegel bzw. Holz für ihre sogenannten Skelettbauten, bei denen Holzsäulen, nicht Mauern das Dach trugen.
Als Mitte des 19. Jahrhunderts unter einer schwachen Mandschu-Regierung Europäer in Südchina eindrangen, siedelten sie in speziell für sie geschaffenen Wohngebieten. Hier fühlten sie sich hier sicherer, doch sahen auch die Chinesen diese Konzentration der Ausländer an einem Ort nicht ungern, denn sie erleichterten ihnen die Kontrolle. In diesen „Konzessions-und Kronkoloniegebieten“ schufen sich die Europäer – unter ihnen die Deutschen – ein Stück Heimat: diplomatische Vertretungen, Kirchen, Clubs, Schulen, Residenzen. Man verpflichtete europäische Architekten, die hier im heimischen Stil bauten, allerdings in den ersten Phasen auch die neuen klimatischen Bedingungen berücksichtigten.
In den deutschen Siedlungsgebieten, vor allem in den Schutzgebieten Jiaozhou (Kiautschou) bzw. Qingdao (Tsingtau), bestimmten preußische Bauvorschriften das Bild. So mußten etwa rote Dachziegel verwandt werden und Wellblech war verboten. Der Einfluß zeigt sich bis zu der neuen Bauordnung Qingdaos von 1985: In keiner anderen Stadt Chinas gibt es so viele rote Dächer.
An welchen Baustilen orientierten sich die deutschen Architekten? Zeigten frühe Bauten noch einen gewissen britischen Einfluß, so baute Heinrich Becker um die Jahrhundertwende im Stil der Neo-Renaissance. In den nördlichen Gebieten der chinesischen Ostküste schwelgten die deutschen Architekten dann im Neo-Romanik-, Neo-Barock- und Jugendstil, teilweise mischten sie die Stilelemente auch. Unter den repräsentativen staatlichen Gebäuden Qingdaos kann der Besucher eines der schönsten Jugendstilgebäude außerhalb Deutschlands bewundern. Im sakralen Bereich herrschte bei katholischen Kirchen der neugotische Stil vor, während protestantische Kirchenbauten neben Jugendstilelementen auch historisierende Charakteristika aufweisen.
Der bekannteste unter den deutschen Architekten in China war Curt Rothkegel (1876–1946). Von ihm stammen wohl die meisten deutschen Bauten. Er hatte sich schon früh einen guten Namen bei den Chinesen erworben: 1910 beauftragte man ihn sogar, ein Parlamentsgebäude zu entwerfen, doch kam es infolge der politischen Wirren nicht mehr zur Ausführung. Umbauten aus den Jahren 1915/16, die durch den Bau einer Straßenbahn notwendig wurden, hinterließen dennoch Spuren von Rothkegels architektonischer Tätigkeit in Beijing, so vor allem die Eingriffe am Vorderen Tor, dem Qianmen. In Jinan, der Hauptstadt der Provinz Shandong, tragen drei bedeutende Bauten die Handschrift deutscher Architekten: der neue Shandong-Bahnhof, die ehemalige Deutsch-Asiatische Bank sowie die katholische Kathedrale…
Prof. Dr. Peter Thiele