Noch um 1500 war die Schweizer Eidgenossenschaft vornehmlich für eine Kunst bekannt, die man nur schönfärberisch so nennen darf: das Kriegshandwerk, das jungen, zu fast allem entschlossenen Söldnern als mitunter ertragreicher Ausweg aus der wirtschaftlichen Not chronisch übernutzter Talschaften diente – ein Ausweg, der aber oft genug mit einem frühen Tod endete. In Sachen Kultur war hingegen kaum viel Bemerkenswertes zu vermelden. Die bedeutenden Konzils-, Bischofs- und Bildungsstädte Basel, Konstanz und Lausanne lagen in nächster Nähe, gehörten aber (noch) nicht zur Eidgenossenschaft und waren darum ins Reich, nach Italien oder Savoyen hin orientiert. Höfische Kunstförderung wurde im vornehmlich republikanischen Staatenverbund ohnehin nur begrenzt betrieben. Die Volksfrömmigkeit florierte zwar in der Verehrung lokaler Heiliger und in Wallfahrten, blieb aber in konventionellen Bahnen. Dies galt auch für den Kirchenbau der Zeit, der unlängst treffend als Boom bezeichnet wurde.
Kaum zwei Generationen später, noch vor der Mitte des 16. Jahrhunderts, gehörten die schweizerischen Stadtstaaten dann aber bereits zu den einflußreichsten frömmigkeitlichen Räumen des Kontinents. In den bildenden und dramatischen Künsten, in der Buchproduktion und nicht zuletzt mit innovativen Kirchenleitungsmodellen waren Vorbilder entstanden, die das Glaubensverständnis weiter Teile Europas prägten, ja später gar weit darüber hinaus formen sollten. Gottesdienstgestaltung, theologische Optionen und kirchliche Struktur?modelle, die in dieser Zeit entwickelt wurden, bilden den Beginn der reformierten Konfession, die seit der frühen Neuzeit bis heute den Glauben und damit auch die Welthaltung und das Lebensgefühl unzähliger Menschen ausbilden sollte.
Diese erstaunliche Veränderung ist mit der Gestalt des 1484 im ostschweizerischen Voralpental des Toggenburg geborenen und späteren Zürcher Leutpriesters Huldrych Zwingli untrennbar verbunden. Keiner initiierte so sehr wie er jene oft stürmische Umgestaltung, die seit 1519 von Zürich ausgehend weite Teile der Eidgenossenschaft erfaßte. Umgekehrt verkörpert kaum einer in solch beinahe idealtypischer Weise wie er die Strömungen, die zu dieser neuen Bewegung führten und ihr gegen erhebliche Widerstände letztlich zum Durchbruch verhalfen.
Damit ist allerdings auch klar – und hierin unterscheidet sich unsere heutige Optik von derjenigen früherer Generationen –, daß selbst der imposante Kämpfer auf der Zürcher Großmünsterkanzel ohne seine Prägung und Umwelt nicht denkbar ist. Weder war Zwingli ein Vorkämpfer der Aufklärung, noch handelte er als ein Verfechter des liberalen Schweizer Bundesstaates, wie man sich später einbildete; er verstand sich selber nur bedingt als politischen Agitator oder humanistischen Bildungsenthusiasten, um nur einige der Klischees zu benennen, die ihm bis heute hartnäckig anhaften. Auf den jungen Zwingli wirkten in erster Linie seine Studien an der Basler Universität. Auch lange nach seinem 1506 erlangten philosophischen Magistergrad und seinem Amtsantritt als Pfarrer in Glarus blieb er der Alma Mater Basiliensis vielfältig verbunden. Die im Anschluß an das Konzil in Basel gegründete Hochschule wurde somit in Zwinglis Leben, was sie seit dem 1501 erfolgten Beitritt der Stadt für die Eidgenossenschaft auch insgesamt darstellte: die mit Abstand wichtigste höhere helvetische Bildungsinstitution.
In die Stadt am Rheinknie war Zwingli schon mit elf Jahren als Privatschüler zu einem bekannten Magister geschickt worden. Um 1497 schloß sich ein Aufenthalt in Bern bei dem Humanisten Wölfflin an, der allerdings ein abruptes Ende fand, weil Zwingli ebensoviel Gefallen am monastischen Chorgesang wie der örtliche Dominikanerkonvent an seiner schönen Stimme fand, was der Familie in Wildhaus, wo der Vater als Bürgermeister der wohlhabenden, lokalen Elite angehörte, mißfiel. Einem Ordenseintritt baute die Familie darum wirksam vor: Zwingli wurde 1498 für mehr als drei Jahre an die weltläufige Wiener Fakultät der freien Künste geschickt.
1502 kehrte Zwingli nach Basel zurück, wo er sich an der Universität einschrieb. Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich mit Lateinunterricht, zu dem schließlich eine Pfründe am Chorherrenstift St. Peter hinzukam. An ihr hing Zwingli so sehr, daß er Ende 1511 – mittlerweile längst Pfarrer in Glarus – ernsthaften Ärger mit der Stiftsleitung bis hin zur Androhung förmlicher Exkommunikation riskierte, weil er anscheinend die mit ihr verbundenen Präsenzpflichten wegen seiner Glarner Pfarrstelle nicht wahrnehmen konnte. Dieses einigermaßen dramatische Vorkommnis zeigt exemplarisch, wie sehr Zwingli auch als Glarner Pfarrer seine Kontakte mit der Universitätsstadt bewahren wollte, was auch sein Briefwechsel immer wieder offenlegt.
Dr. Daniel Bolliger