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Und die Moral von der Geschicht’…

Viktorianisch - Signum eines Zeitalters

Und die Moral von der Geschicht’…
„Viktorianisch“ hat einen positiven wie negativen Beiklang. Man bewundert die Viktorianer wegen ihres in der Religion gründenden Ethos, das es ihnen erlaubte, Modernisierungsschüben mit bemerkenswerter Zuversicht zu begegnen. Ihr Versuch, die menschlichen Instinkte zu unterdrücken, vor allem die Sexualität, mag im Rückblick aber auch als Heuchelei erscheinen.

Der Begriff „viktorianisch“ entstand beinahe zufällig. Als die spätere Königin – zu dieser Zeit war sie nur die Nummer fünf in der Thronfolge – im Mai 1819 geboren wurde, war Viktoria in England kein geläufiger Mädchenname. Die Auswahl der Namen oblag dem Onkel des Babys, dem Prinzregenten, der wenig später Georg IV. wurde. Seine eigene Tochter und Erbin, Prinzessin Charlotte, war 1817 im Kindbett gestorben, und die Vorstellung, der Nachkomme eines seiner ungeliebten Brüder könne ihren Platz einnehmen, gefiel ihm gar nicht. Als der Erzbischof von Canterbury das Baby bereits über das Taufbecken hielt, bestimmte der Prinzregent, der erste Name müsse Alexandrina sein, da Zar Alexander I. einer der Paten war. Ein Königskind mußte aber mindestens einen weiteren Namen haben. Augusta – ein unter den weiblichen Mitgliedern des Hauses Hannover verbreiteter Name – wollte der Onkel nicht zulassen. „Dann geben Sie ihr eben den Namen der Mutter“, meinte er schroff. Ihre Mutter, eine geborene Prinzessin von Sachsen-Coburg-Saalfeld, hieß Victoire, und so wurde Viktoria der zweite Name. Alexandrina oder Drina verschwand allmählich, Viktoria oder „Vickelchen“, wie ihre deutsche Mutter sagte, blieb und gab einer ganzen Epoche den Namen.

Das viktorianische Ethos, wie immer man es angesichts der angedeuteten Zwiespältigkeit definieren mag, läßt sich nicht auf die 64 Jahre der Herrschaft Königin Viktorias reduzieren. Und seine Wirkung war nicht auf das Vereinigte Königreich von England, Schottland und Irland sowie seinen weltweiten Kolonialbesitz begrenzt. Wesentlich gehörte dazu eine bestimmte Art von Religiosität. Sie war das Ergebnis eines langen Prozesses, der mindestens bis ins 17. Jahrhundert zurückreichte, in die Zeit Oliver Cromwells.

Der Einfluß der Puritaner und ihrer Nachfolger, der dissenter (Abweichler) bzw. Nonkonformisten, war groß: Sie fügten sich nicht in die Church of England, die englische Staatskirche, ein, sondern gründeten Sekten, wie die Baptisten, die Kongregationalisten oder die Quäker.

Aber auch die anglikanische Kirche umfaßte ein weites Spektrum zwischen Protestantismus und Katholizismus. Im 18. Jahrhundert, unter dem Einfluß der Aufklärung, war ihr Klerus oft weltlich, eng verbunden mit der herrschenden Klasse der Großgrundbesitzer und ohne Kontakt zu den Massen. Dies machte den Weg frei für eine weitere Erweckungsbewegung, die sich um den Wanderprediger John Wesley scharte. Der Wesleyismus bzw. Methodismus (so die spätere Bezeichnung) stärkte die nonkonformistischen Sekten. Mitte des 19. Jahrhunderts feierten mindestens so viele Menschen den Gottesdienst in nonkonformistischen Kirchen wie in anglikanischen. Für sie war Cromwell, der den Vorfahren der Königin, Karl I., hatte hinrichten lassen, noch immer ein Held. In der Kirche von England erlebte der protestantischere, evangelikale Flügel (low church) gegen Ende der Napoleonischen Kriege eine gewisse Renaissance. In seiner geistigen Ausrichtung ähnelte er dem zur selben Zeit unter preußischen Junkern wiederauflebenden Pietismus: Was zählte, war die Rettung der einzelnen Seele; dies konnte durch persönliche Frömmigkeit und ein gottgefälliges Verhalten erreicht werden. Vieles von dem, was später viktorianisch genannt wurde, war von diesem nonkonformistischen und evangelikalen Ethos beeinflußt. Wichtig war zudem der Fortschrittsglaube, der auf den Britischen Inseln allerdings schon lange verbreitet war.

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Alle gesellschaftlichen Schichten neigten dazu, an eine besondere historische Mission der protestantischen britischen Nation zu glauben. Vor allem Teile des Adels, die Whigs (Vorläufer der liberalen Partei und Verfechter einer konstitutionellen Monarchie), waren überzeugt, daß sie dem Land durch eine erfolgreiche Revolution von oben die einzigartigen Vorteile einer libertären (extrem freiheitlichen) Verfassung beschert hätten. Sie würde einen anhaltenden Fortschritt sicherstellen, und sie würde das Fundament sein, auf dem der Glauben an die britische Sonderstellung gründete (den nur die katholischen Einwohner Irlands nicht teilten). Die Fortschrittsgläubigkeit wurde durch den wirtschaftlichen Wandel gestützt, der Großbritannien seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts zur ersten Industrienation werden ließ.

Bis 1815 hatte das Land den Angriff der Französischen Revolution abgewehrt und den Sieg über Napoleon errungen. Die Industrialisierung konnte voll in Gang kommen. Sosehr sie jedoch die Aussicht auf unerhörten Wohlstand und künftige Macht eröffnete, so groß waren die Probleme, die sie schuf. Städte wie Manchester oder Birmingham, die wenig mehr als Dörfer gewesen waren, wuchsen gewaltig, doch traf man weder im Wohnungsbau noch zunächst beim Abwassersystem ausreichend Vorsorge für das Industrieproletariat, das in die Städte strömte.

Mit der städtischen Armut war viel schwerer fertig zu werden als früher mit der ländlichen. Aber auch diese gab es noch: Modernere Agrarmethoden begünstigten die Großgrundbesitzer und setzten kleinere Bauern und Landarbeiter unter Druck. Begleitet war dies von einem raschen Anstieg der Bevölkerungszahlen, denn allmählich sinkende Todesraten gingen mit unverändert hohen Geburtenraten einher…

Prof. Dr. Edgar Feuchtwanger

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