Mir träumte, die Laterankirche bekäme Risse und drohte einzustürzen. Da kam ein unscheinbarer kleiner Mann. Er stellte sich unter das große Säulenportal und stützte es nur mit der Kraft seiner Arme.“ Als er erwachte, erkannte Papst Innozenz III. (1198-1216), dass jener Mann, der ihm im Traum erschienen war, niemand anderer war als Franziskus von Assisi. Erst am Tag zuvor war dieser bei ihm gewesen und hatte um die päpstliche Anerkennung und den Segen für seine kleine Glaubensgemeinschaft ersucht. Es ist ein mächtiges Bild, das die Legende aus der Rückschau um den kleinen Mann aus Assisi und den Zustand der Gesamtkirche zu Beginn des 13. Jahrhunderts webt: die Laterankirche, Symbol für die westliche Christenheit, vom Einsturz bedroht, den nur der in Lumpen gekleidete Franziskus aufzuhalten vermag.
In der Tat waren Papst und Kirche um 1200 in arge Bedrängnis geraten. Anlass zur Sorge gaben keine äußeren Feinde, sondern Menschen, die sich zu einem Leben nach dem Evangelium in radikaler Armut bekannten. „Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und gib das Geld den Armen; so wirst du einen bleibenden Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach“, lautete Jesu Vermächtnis (Matthäus 19,21), das für alle Männer und Frauen Gültigkeit besaß, die ihr Leben in der Nachfolge Christi führten. Doch auf die Frage, inwieweit eine freiwillige Armut in Christus-Nachfolge tatsächlich reale Armut bedeuten sollte, fand die Kirche keine einheitliche Antwort.
Die Benediktregel, nach der bis zum 13. Jahrhundert die meisten Mönche und Nonnen lebten, verbot dem Einzelnen strikt jeglichen Privatbesitz: „Keiner habe etwas als Eigentum, überhaupt nichts, kein Buch, keine Schreibtafel, keinen Griffel – gar nichts.“ Alles, was er benötige, werde ihm vom Abt zugewiesen. „Alles sei allen gemeinsam, damit niemand etwas als sein Eigentum betrachten oder bezeichnen kann.“ Dennoch waren Schenkungen und Zuwendungen von außen an die Klöster gerne gesehen, von denen etliche über die Jahrhunderte einen beachtlichen Reichtum anhäuften. Einen Widerspruch zwischen der eigenen, eher symbolischen Armut und dem Leben in einer wohlhabenden Gemeinschaft, die das Lebensnotwendige bereitstellte, sah man kaum.
Dennoch gab es immer wieder innerkirchliche Strömungen, die den Reichtum von Kirchen und Klöstern verurteilten und zur Rückkehr zu einer bescheideneren Lebensweise nach dem Vorbild der ersten Christen aufriefen. Aus diesen Stimmen der Unzufriedenen erwuchsen im 11. und 12. Jahrhundert asketische Orden wie die der Zisterzienser, Prämonstratenser und Kartäuser. Obwohl sich die Angehörigen der beiden erstgenannten Ordensgemeinschaften selbst als pauperes Christi (Arme Christi) bezeichneten, kamen viele ihrer Klöster und Stifte durch erfolgreiches Wirtschaften schnell zu großem Wohlstand und weltlichem Einfluss und drohten dadurch bald ihre eigenen Grundsätze zu verraten…
Dr. Sabine Buttinger