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„Venedigs Sixtinische Kapelle“

Tintoretto und die Scuola Grande di San Rocco

„Venedigs Sixtinische Kapelle“
In über 20jähriger Arbeit bedeckte Jacopo Tintoretto Wändeund Decken des prachtvollen Versammlungshauses der Scuola Grande di San Rocco in Venedig mit Gemälden, die ein Spiegel der karitativen Tätigkeit der Bruderschaft sein sollten. In der Realität war es damit nicht mehr so weit her: Das meiste Geld gaben die Brüder für prachtvolle Prozessionen aus, und auch vom einstigen Armutsideal war nicht viel übriggeblieben.

Im Frühjahr 1564 schrieb die große, dem heiligen Rochus geweihte venezianische Laienbruderschaft (Scuola Grande di San Rocco) einen Wettbewerb für die künstlerische Ausgestaltung ihres 1549 fertiggestellten Versammlungshauses im Viertel San Polo aus. Sie forderte die wichtigsten der in Venedig ansässigen Maler auf, einen Entwurf für ein Deckengemälde abzuliefern, das den heiligen Rochus in der himmlischen Glorie zeigen sollte.

Als Giacomo Salviati, Federico Zucchero und Paolo Veronese am verabredeten Termin mit ihren Zeichnungen in der Scuola eintrafen, fanden sie zu ihrem blanken Entsetzen bereits ein fertiges Ölbild Jacopo Tintorettos (siehe nebenstehenden Kasten) an der Decke vor. Auf ihren empörten Protest hin, daß Tintoretto sich nicht an die Abmachung gehalten habe, antwortete ihr Konkurrent nur, daß er nun einmal auf diese Weise arbeite und es im übrigen alle so halten sollten, denn dann wüßten die Auftraggeber wenigstens, was sie am Ende wirklich von den Künstlern geliefert bekämen.

Dieser frechen Replik folgte sogleich der nächste Schachzug des gerissenen Malers. Er bot der Scuola nämlich an, ihr das Bild zu schenken, falls sie ihn nicht für seine Arbeit entlohnen wolle – eine Offerte, welche die Bruderschaft gar nicht ablehnen konnte, denn ihre Satzung verlangte, alle ihr angebotenen Geschenke anzunehmen. Durch diesen coup de théâtre sicherte sich Tintoretto den ersten Auftrag für das Versammlungshaus der Scuola Grande di San Rocco, dessen Wände und Decken er in den folgenden 24 Jahren mit weiteren 61 Gemälden nahezu komplett ausmalte und das seither als „Sixtinische Kapelle Venedigs“ gilt.

Die venezianischen Scuole sind aus der Flagellantenbewegung der Mitte des 13. Jahrhunderts hervorgegangen. Als Laienbewegung verbreitete diese sich damals von Umbrien und der Toskana ausgehend in Windeseile in ganz Italien. Durch Bußübungen und die Wiederbelebung der christlichen Ideale von Armut, Demut und Näch-stenliebe hofften sie, Gottes Zorn und den angeblich drohenden Weltuntergang abzuwenden, weshalb sie sich auch der Nachahmung des Leidenswegs Christi verschrieben. So zogen sie barfuß und in grobes Sackleinen gekleidet durch das Land, ein Kreuz tragend oder sich mit Peitschen selbst geißelnd.

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Doch schon bald gelang es in Venedig, diese Unruhestifter in geordnete Bahnen zu lenken, mehr noch: Sie wurden zu Stützen der herrschenden Ordnung. So dienten die Scuole zunehmend als Ventil für die reichen Bürgerfamilien, die in der undurchlässigen, auf eine feste Anzahl von regierenden Familien beschränkten Oligarchie Venedigs kein politisches Mitspracherecht besaßen. Als Mitglieder der Scuole durften sie jedoch neben den politischen Würdenträgern an allen wichtigen politischen und religiösen Prozessionen teilnehmen und konstituierten so, zumindest symbolisch, einen fundamentalen Bestandteil im politischen System der Republik. Als stabilisierendes Glied trugen die Scuole entscheidend zu der legendären politischen Harmonie in der Stadt bei, die Historiker seit dem 19. Jahrhundert als „Mythos Venedigs“ bezeichnen.

Die Prozessionen boten ambitionierten Bürgern also die Möglichkeit zur psychologisch so wichtigen öffentlichen Selbstdarstellung. Mit dem im 15. und 16. Jahrhundert stetig zunehmenden Wohlstand des Bürgertums gestalteten sich deshalb die Prozessionen immer aufwendiger und kostspieliger. Auf mitgeführten Plattformen fanden ganze Theateraufführungen statt, und die wichtigsten Reliquien der jeweiligen Scuola wurden in kostbaren Behältern präsentiert.

Mit der öffentlichen Selbstgeißelung der Mitglieder hingegen nahm es schon bald ein Ende, da die meisten Laienbrüder lieber in edlen Gewändern der Prozession voranschritten und Bedürftige aus der Unterschicht dafür bezahlten, an ihrer Stelle Kreuze zu tragen und sich zu geißeln.

Im 16. Jahrhundert gab es in Venedig sechs dieser großen Laienbruderschaften, die Scuole Grande. Deren Mitgliederzahlen wurden zwar ständig aufgestockt, doch blieben sie begrenzt. Weniger wohlhabende Bürger organisierten sich daher in den Scuole Piccole, kleineren und schlechter begüterten Laienbruderschaften, die zumeist kein eigenes Versammlungshaus besaßen und deren Mitglieder sich statt dessen an einem eigens dafür reservierten Altar in den jeweiligen Kirchen trafen.

Auf diese Weise gelang es, eine relativ breite Bevölkerungsschicht in den Scuole zu organisieren. Dies brachte den Brüdern neben den politischen und repräsentativen auch ganz konkrete materielle Vorteile. Denn die Mitgliedschaft in diesen Vereinigungen glich einer Lebensversicherung, da die Scuole karitative Aufgaben übernahmen und sich verpflichteten, unerwartet verarmte oder verwitwete Mitglieder samt ihren Angehörigen bis an das Lebensende zu unterstützen. Daneben unterhielten zumindest die Scuole Grande über die gesamte Stadt verteilt Hospitäler, Altersheime sowie Sozialwohnungen. Da dies im 16. Jahrhundert neben dem Familienverbund nahezu die einzige Form von sozialer Absicherung darstellte, war die Mitgliedschaft in den Scuole äußerst begehrt…

Literatur: Roland Krischel, Tintoretto. Reinbek bei Hamburg 1994. Astrid Zenkert, Tintoretto in der Scuola di San Rocco. Ensemble und Wirkung. Tübingen/Berlin 2003.

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