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Von „alten maeren“

Vom historischen Geschehen zum Nibelungenlied

Von „alten maeren“
Das Nibelungenlied gibt kein historisches Geschehen wieder. Gleichwohl finden sich darin zahlreiche Bezüge zu Ereignissen in der Spätantike bzw. im frühen Mittelalter. Doch fügte das Lied beispielsweise Personen zusammen, die sich tatsächlich nie hätten begegnen können, weil sie gar nicht zur gleichen Zeit lebten.

Das Nibelungenlied ist erst um 1200 entstanden. Mit Geschichte, wie sie Historiker erzählen, haben die alten maeren, auf die sich das Lied beruft, nur wenig zu tun. Allenfalls Spurenelemente historischen Geschehens lassen sich erahnen. Zumal die Namen der Protagonisten gehören dazu: Das Reich der Burgunden bei Worms ging 436 unter, zur Zeit des Königs Gundahar/Gunther. Der König Etzel des Lieds lässt an Attila denken, jenen mächtigen Hunnenführer, der 453 starb. Diet‧rich von Bern verweist auf Theoderich den Großen – den Goten‧könig, der im März 493 seinen Konkurrenten, den Militärführer Odoaker, in Ravenna wohl eigenhändig bei einem Gastmahl erschlug und darauf in Italien ein eigenes Reich gründete. Die Konkurrenz zwischen Kriemhild und Brünhild schließlich verweist auf den mörderischen Streit zwischen Brunichilde und Fredegunde, zwei Königinnen des Merowingerreichs im 6. und frühen 7. Jahrhundert.

Schon diese Aufzählung zeigt deutlich genug: Das Nibelungenlied führt Figuren zusammen, deren historische Urbilder nichts miteinander zu tun hatten. Weder hätte Attila Theoderich treffen können, noch Brunichilde mit Gundahar um die Wette springen. Als historische Quelle für die Ereignisse des 5. und 6. Jahrhunderts taugt das Nibelungenlied deshalb nicht. Viel zu lang ist der Stoff mündlich überliefert worden: Über mehr als 600, ja 700 Jahre wurde er von Mund zu Ohr weitergegeben. So waren die historischen Ereignisse, als sie zum Stoff des Lieds wurden, fast bis zur Unkenntlichkeit verwandelt. Nach dem Schatz der Nibelungen im Flussbett des Rheins zu graben wäre unnütze Mühe. Schon die Zeitgenossen um 1200 wussten zwischen Lied und Geschichte zu unterscheiden.

Wozu dann aber ein Beitrag über jene fernen historischen Impulse des 5. und 6. Jahrhunderts? Um das Nibelungenlied zu erklären, sind derlei Informationen kaum hilfreich. Sie helfen aber doch, jene gewaltige Verformungskraft zu ermessen, die mündliche Überlieferung über die Jahrhunderte zu entfalten vermag. So stellt dieser Beitrag fünf historische Persönlichkeiten vor, die im Lauf langer Zeiten – sehr allmählich, aber tiefgreifend verwandelt – zu Figuren des Nibelungenlieds werden sollten.

Die Zeit des 5. und 6. Jahrhunderts gehör zu den großen Umbruchzeiten Europas. Um 400 dominierte das Imperium Romanum noch die gesamte Mittelmeerwelt, von Ägypten bis Spanien, von Tunesien sogar bis in den Norden Englands. Um 600 hatte sich die politische Landkarte Europas dramatisch verändert. Im Osten lebte das Römische Reich fort, wenngleich in sich wandelnden Formen; im Westen aber hatten sich eigene Herrschafts‧gebilde etabliert. Deren Anführer, wie auch Teile ihrer politischen und militärischen Eliten, begriffen sich nicht mehr als römische Bürger, sondern als Angehörige ethnischer Gemeinschaften. In den zeitgenössischen Texten firmieren sie als Goten, Vandalen und Burgunden, als Franken, Alamannen, Langobarden, Sachsen, Angeln, Hunnen und dergleichen mehr.

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Wie und warum diese gewaltige Transformation vom Imperium Romanum zu einer Welt ethnisch begründeter Reiche stattfand, darüber streiten Historiker auf der ganzen Welt noch immer. Fest steht mittlerweile immerhin so viel: Damals sind nicht etwa „germanische Völker“ aus den tiefen Wäldern des „freien Germanien“ losgezogen, um auf der Suche nach Lebensraum das Imperium Romanum zu überrennen und nebenbei eine Epoche abzuwickeln. Solche Erklärungen sind viel zu einfach, als dass sie etwas über das komplexe Geschehen des 5. und 6. Jahrhunderts aussagten; umso mehr verraten sie über völkisches Gedankengut des 19. und 20. Jahrhunderts.

Die vermeintlichen Germanen der Spätantike wussten nicht, das sie Germanen waren; und mit pelzbekleideten Barbaren aus den Tiefen Germaniens haben die Persönlichkeiten, die uns in historischen Quellen politisch und militärisch handelnd entgegentreten, ganz und gar nichts gemein. Am Beispiel unserer Prot‧ago‧nisten – Gundahar und Attila, Theoderich, Brunichilde und Fredegunde – lässt sich das gut zeigen: Sie geben zu erkennen, um wie viel komplexer, auch mannigfaltiger Lebenswelten zwischen Spätantike und Frühmittelalter waren.

Im Winter 406/07 überquerten Gruppen, die in zeitgenössischen römischen Quellen als Vandalen, Alanen und Sueben bezeichnet werden, gemeinsam den Rhein. Sie plünderten zunächst Regionen in Gallien, bevor sie 409 weiter nach Spanien zogen. Damals schilderte und beklagte der Kirchenvater Hieronymus die Inva‧sion in einem Brief. Er listete sogar noch mehr Invasoren auf: Quaden, Vandalen, Sarmaten, Alanen, Gepiden, Heruler, Sachsen, Alamannen und Burgunden. Sie alle hätten die Gegenden zwischen Alpen und Pyrenäen, zwischen Rhein und Atlantik verwüstet. Mainz, Worms, Reims, Amiens und etliche Städte mehr seien gefallen.

Der Brief zählt zu den raren Zeugnissen, die uns überhaupt Informationen über die Burgunden in jenen Jahren bieten. Anders als das Schreiben glauben machen könnte, müssen wir allerdings davon ausgehen, dass die Burgunden die Vandalen nicht etwa bei allen ihren Plünderungen in Gallien begleiteten. Stattdessen schlossen sie zunächst mit dem Usurpator Konstantin III. einen Vertrag, mit dem sie sich ihm gegen Sold als Hilfstruppen verdingten. 411 dann halfen sie dem senatorischen Adligen Jovinus dabei, sich zum Gegenkaiser aufzuschwingen. Und spätestens 413 siedelten sie am Rhein – wo genau, darüber haben Historiker lange gestritten. Sicherheit gibt es bis heute nicht, aber immerhin: Die Gegend bei Mainz und Worms, in der das Nibelungenlied das Geschehen ansiedelt, kommt auch in Frage. Dem zeitgenössischen Kirchenhistoriker Sokrates im fernen Konstantinopel schienen die Burgunden im Übrigen recht harmlos: „Sie leben friedlich“, schrieb er, „da sie fast alle Zimmerleute sind und mit diesem Handwerk ihren Unterhalt bestreiten, indem sie sich gegen Bezahlung verdingen.“ …

Prof. Dr. Steffen Patzold

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