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„Wandeln unter den Lebenden“

Weiterleben aus altägyptischer Sicht

„Wandeln unter den Lebenden“
Die Idee, dass der Tod das Leben eines Menschen nicht beendet, ist vielen Religionen gemeinsam. Im alten Ägypten gab es neben der Konservierung des Leichnams verschiedene Konzepte, die die jenseitige Existenz sichern sollten. Eines der zentralen Themen war dabei der Wunsch des Verstorbenen, die Unbeweglichkeit als Mumie zu überwinden und sich frei bewegen zu können.

Die Grundidee der uneingeschränkten Beweglichkeit ist bereits in den Grabbauten des Alten Reichs (2707–2170 v. Chr.), den Mastabas, architektonisch in Form der sogenannten Scheintür fassbar. Sie markiert die Schnittstelle zwischen den Existenzsphären, indem der Verstorbene durch sie Zugang zu den für ihn im Grab dargebrachten Opfergaben erhält und somit die Unterwelt verlassen kann. In den königlichen Jenseitstexten des Alten Reichs, den Pyramidentexten, steht der Himmelsaufstieg des Königs zu den nicht untergehenden Sternen im Zentrum, während die Menschen in den „schönen Westen“ als Jenseitsgefilde hin‧übergehen wollen. Auch die Sargtexte des Mittleren Reichs (2020–1793 v. Chr.) beschreiben den Wunsch des Verstorbenen nach Bewegungsfähigkeit, aber erst mit den Jenseitstexten des Neuen Reichs (1550–1070 v. Chr.), dem „Totenbuch“, gewinnt dieses Motiv in der Formel des „Herausgehens am Tage“ an Bedeutung. Die Bezeichnung „Totenbuch“ und die neuzeitliche Numerierung der einzelnen Sprüche führte der deutsche Ägyptologe Karl Richard Lepsius ein, als er 1842 einen Turiner Papyrus aus der Ptolemäerzeit mit 165 verschiedenen Sprüchen publizierte – der altägyptische Name dieses Textkorpus lautet jedoch „Sprüche vom Her-ausgehen am Tage“. Dabei handelt es sich um eine Zusammenstellung von Texten, die vorwiegend auf Papyrus in der sogenannten Totenbuch-Kursive – einer kursiven Form der Hieroglyphen – oder in Hieratisch – der eigentlichen Handschrift der alten Ägypter – niedergeschrieben wurden. Aber auch auf anderen Schriftträgern sowie Teilen der Grabausstattung (etwa auf der berühmten Goldmaske Tutanch-amuns) finden sich einzelne Totenbuchsprüche. Häufig wurden Vignetten als Illustrationen beigefügt, die den Inhalt des jeweiligen Textes bildlich aufgreifen und ergänzen.

Mit diesen Sprüchen sollte dem oder der Verstorbenen Kenntnis über das Jenseits und seine Gefahren vermittelt werden. Neben dem Wissen, das man durch die Texte erlangte, spielte auch die mit den Totenbuchsprüchen immanent geglaubte Magie eine wichtige Rolle. So heißt es im Totenbuchspruch 31: „Spruch, um die Krokodile abzuwehren, die kommen, um die Zauberkräfte eines Mannes von ihm zu nehmen im Totenreich. Worte zu sprechen von Osiris NN [hier ist der Name des Totenbuchbesitzers einzusetzen]: Zurück, kehr um! Zurück, du Krokodil! Komm nicht zu mir, denn ich lebe von meinen Zauberkräften …“ Dass dieser Spruch tatsächlich wirksam sei, wird an dessen Ende explizit betont: „Was den betrifft, der diesen Spruch kennt, der wird herausgehen am Tage und auf Erden wandeln unter den Lebenden. Nicht wird er zugrunde gehen bis in Ewigkeit. Als wirklich vortrefflich, millionenmal [erprobt]“.

Die Vorstellung vom „Her-ausgehen am Tage“ entwickelt sich im Lauf des Neuen Reichs, insbesondere seit der 19. Dynastie (1292–1186 v. Chr.), dahingehend, dass das Herauskommen aus der Unterwelt mit der Fähigkeit des Verstorbenen, sich in verschiedene Gestalten verwandeln zu können, verknüpft wird. Auch dies findet sich in den Sprüchen des Totenbuchs explizit formuliert. So heißt der Titel zu Totenbuchspruch 76: „Spruch, um sich in jede Gestalt verwandeln zu können, die er [der Verstorbene] wünscht“.

Der Text garantierte die Wandlungsfähigkeit des Verstorbenen, der sich wie der Sonnengott durch verschiedene Erscheinungsformen immer wieder zu regenerieren wünscht. Im Totenbuchspruch 86 wird dieser zyklische Charakter deutlich, indem das Wiedereintreten ins Totenreich am Abend ausführlich beschrieben wird. In der Nachschrift des Spruchs heißt es erläuternd: „Was den betrifft, der diesen Spruch kennt, er wird herausgehen am Tage aus dem Totenreich, und er wird [wieder] eintreten, nachdem er herausgegangen ist. Was den betrifft, der diesen Spruch nicht kennt, der wird nicht eintreten, nachdem er herausgegangen ist, das Her-ausgehen am Tage nicht kennend“.

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Die altägyptischen Jenseitstexte ge‧‧ben uns manchmal einen recht klaren Einblick, wie sich die alten Ägypter die Bedingungen des Weiterlebens vorstellten. Als Beispiel sei Totenbuchspruch 53 angeführt, der deutlich macht, dass der Verstorbene für sich dieselben Verhältnisse wie im Diesseits vorfinden wollte: Er will auf seinen Füßen gehen und nicht auf dem Kopf; außerdem fürchtet er, dass der Verdauungsprozess umgekehrt werden könnte, wie es der Titel dieses Spruchs formuliert: „Spruch, um keinen Kot zu essen und keinen Urin zu trinken im Totenreich. Worte zu sprechen von Osiris NN: … Mein Abscheu ist der Kot. Ich werde keinen Urin trinken, ich werde nicht kopfüber gehen …“ Aber wie sollte es möglich sein, dass der Verstorbene über eine freie Beweglichkeit und Wandelbarkeit verfügte, wenn doch sein Leichnam als Mumie in seinem Grab lag?

In der Vorstellung der alten Ägypter bestand der Mensch nicht nur aus seinem Körper allein, sondern aus weiteren Persönlichkeitsaspekten: Ba, Ka und Ach. Während der Ach eine jenseitige Existenzform ist, die der Verstorbene nach dem Tod erwirbt, sind Ba und Ka Aspekte eines Menschen, die seit seiner Geburt mit ihm verbunden sind. Die beiden Letzteren werden häufig mit dem Begriff „Seele“ übersetzt, wobei sie aber unterschiedlicher Natur und keineswegs mit unserem Seelenbegriff gleichzu‧setzen sind…

Literatur Jan Assmann, Tod und Jenseits im alten Ägypten. München 2001. Ursula Verhoeven, Das saitische Totenbuch der Iahtesnacht. Bonn 1993.

Svenja A. Gülden

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