Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

Alltag im Mittelalter – Natürliches Lebensumfeld und menschliches Miteinander

Schubert, Ernst

Alltag im Mittelalter – Natürliches Lebensumfeld und menschliches Miteinander

Ein flammendes Plädoyer für eine gerechtere Beurteilung des „finsteren Mittelalters“ In stets quellenbezogener, nirgends langweiliger Weise, überaus temperamentvoll und niemals die eigenen Überzeugungen verbergend, mögen sie auch noch so sehr vom „main stream“ abweichen, verknüpft Ernst Schubert in historischer Rückschau, zugleich aber bewußt in Hinblick auf die Bedürfnisse der Lesers der Gegenwart, zwei Grundaspekte zu einer beeindruckenden Summe: die unentrinnbare Umweltbezogenheit des Menschen, deren man sich in der Vergangenheit notwendigerweise viel unmittelbarer bewußt wurde als bei uns heutzutage, und die Problematik der sozialen Existenzformen der „kleinen Leute“ und deren Wahrnehmung. Absichtlich wählt er den Blickwinkel seiner Untersuchung über das menschliche Zusammenleben „von unten“. Die Großen, denen in der älteren Forschung besondere Aufmerksamkeit galt – Herrscher, Adel, hohe Geistlichkeit, auch der Patriziat – bleiben weitgehend unbeachtet; auf Randgruppen wird hingegen vermehrt eingegangen, bisweilen wohl in unproportionalem Ausmaß. Die Quellenkenntnisse sind wahrhaft stupend; selbst erfahrene Forscher werden viel Neues finden.

Der erste Hauptteil „Natürliches Lebensumfeld“ mit Darlegungen über das Klima und seine Wandlungen, die Bedeutung für das Leben der Bevölkerung und die Verarbeitung dieser Erfahrungen, sowie die Bedeutung von Wald und Wasser – jeweils als Gefährdung und als Grundlage kulturellen Bemühens –, ist schlechterdings bewunderungswürdig. Souverän überblickt Schubert die ungemein vielfältigen ökologiegeschichtlichen Forschungen und gestaltet daraus ein plastisches, überaus eindrucksvolles Gesamtbild.

Nicht ganz in gleichem Maße überzeugt der zweite Teil „Menschliches Miteinander“, dessen zwölf Kapitel zwar abermals großartige Einzelbeobachtungen bieten, aber als Summe doch lückenhaft erscheinen. Überhaupt liegt die größte Stärke des Autors in seiner Fähigkeit, den bislang unbeachtet gebliebenen Einzelfall sprechen zu lassen, weniger in der systematischen Aufbereitung.

Symptomatisch dafür ist, daß in der Einleitung auf sechs Seiten mittelalterliche Umweltprobleme und nur auf gut drei die innermenschlichen Beziehungen problematisiert werden. Auffällig ist, welch geringen Raum Schubert der Rolle der Kirche beimißt. Schon in seinem Beitrag zu dem Sammelband „Menschen im Schatten der Kathedralen“ (zusammen mit G. Althoff u. H.-W. Goetz , Darmstadt 1998, vgl. DAMALS 1/99 ) wurden Kirche und Klerus weitestgehend ausgeblendet; beispielsweise ist in dem Kapitel „Wanderung durch die Stadt um 1400“ ausgelassen, daß es dort auch Gotteshäuser gab und diese – vor allem die Hauptkirche – sogar besonders auffällig waren. In „Alltag im Mittelalter“ setzt sich diese Tendenz fort. Temperamentvoll und mit der ihm eigenen autoritativen Sicherheit erläutert der Verfasser: „Verabschieden müssen wir uns von einer Vorstellung, die von Kirchenanhängern und -gegnern gleichermaßen liebevoll gepflegt wird: Der Einfluß der Kirche wird gemeinhein weit überschätzt“. Es mag sein, daß Schubert gegenüber extremen Stimmen recht hat; aber darf man bei einer dem deutschen Mittelalter gewidmeten „Geschichte von unten“ die Bedeutung etwa der Bruderschaften, der kirchlich gebundenen Sozialfürsorge, der Beginen und Begarden, der Heterodoxie, der sich in religiösen Formen artikulierenden sozialen Spannungen so sehr bagatellisieren oder diese ganz übergehen? Eine Schwäche Schuberts liegt in seiner Neigung zu pointierenden Urteilen, wobei er, je stärker er von anderen abweicht, desto bestimmter die eigene Meinung vertritt.

Dennoch ist es ein bedeutendes Buch, hochgelehrt und zugleich für jeden interessierten Laien spannend zu lesen, überlegenswert, auch wo es Widerspruch provoziert, voll von kostbaren Einzelhinweisen und unorthodoxen Beobachtungen, auf jeder Seite geprägt von Sorge vor einer folgenreichen Verkürzung des deutschen Geschichtsbilds und von Liebe zu einer entschwundenen Zeit, die bei aller gegenwärtigen Mißachtung unser „nächstes Fremdes“ bleibt.

Anzeige

Rezension: Goez, Werner

Schubert, Ernst
Alltag im Mittelalter – Natürliches Lebensumfeld und menschliches Miteinander
Primus Verlag, Darmstadt 2002, 423 Seiten, Buchpreis € 29,90
Anzeige
DAMALS | Aktuelles Heft
Bildband DAMALS Galerie
Der Podcast zur Geschichte

Geschichten von Alexander dem Großen bis ins 21. Jahrhundert. 2x im Monat reden zwei Historiker über ein Thema aus der Geschichte. In Kooperation mit DAMALS - Das Magazin für Geschichte.
Hören Sie hier die aktuelle Episode:
 
Anzeige
Wissenschaftslexikon

Quart|sext|ak|kord  〈m. 1; Mus.〉 zweite Umkehrung eines Dreiklangs aus der Grundstellung mit der Quinte als neuem Grundton u. darüber Quarte u. Sexte, z. B. g–c–e

Nacht|af|fe  〈m. 17; Zool.〉 Angehöriger einer zu den Rollschwanzaffen gehörenden Gattung der Breitnasen mit großen Augen u. buschigem Schwanz in Süd– u. Mittelamerika: Aotes

Fo|to|emis|sion  〈f. 20; unz.〉 durch Lichteinstrahlung verursachte Freisetzung eines Elektrons aus einem Festkörper; oV Photoemission … mehr

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige