Bruno Kreisky (1911-1990), österreichischer Bundeskanzler von 1970 bis 1983, ist ohne Frage eine historische Persönlichkeit, deren Erinnerungen einen besonderen Wert haben. In seine Wiener Kindheit fiel der Erste Weltkrieg, nach der Niederlage und dem Scheitern der jungen Ersten Republik fand sich Kreisky als Sozialist im Untergrund wieder, während in Österreich der Austrofaschismus herrschte, eine katholisch-klerikale Diktatur in enger Zusammenarbeit mit dem italienischen „Duce“ Benito Mussolini. 1938 – nach Gefängnisaufenthalten und dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich – konnte Kreisky nach Schweden emigrieren. Nach seiner Rückkehr nach Kriegsende bestimmte er die Geschicke der Sozialdemokratie und der neuen Republik maßgeblich mit. Er war, nicht nur politisch, ein enger Weggefährte Willy Brandts und arbeitete mit ihm und dem langjährigen schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme in der Sozialistischen Internationale zusammen. Bereits 1986 sprach er in mehreren Gesprächssitzungen über sein Leben. Herausgeber Oliver Rathkolb formte aus den ursprünglich zwischen 1986 und 1996 erschienenen, dreibändigen Memoiren des Politikers eine einheitliche Autobiografie. Der Text ist reichlich bebildert und lässt unterschiedliche Stationen von Kreiskys Wirken auch visuell wieder aufleben.
Bruno Kreisky wuchs in einer bürgerlichen jüdischen Familie in Wien auf. Der Altkanzler spricht in seinen Memoiren über seine Schullaufbahn, seinen Entschluss, in der Sozialdemokratie aktiv zu werden, über die Emigration und die Kanzlerschaft. Kreisky setzte sich in seiner Regierungszeit für den sozialen Ausgleich im Land ein und machte Österreich international – nicht nur durch die Mitunterzeichnung des Staatsvertrags 1955 – wieder salonfähig.
Kreiskys Erinnerungen sind spannend zu Papier gebracht, doch zuweilen fehlt die Stringenz: Ab und an (vom Lektorat wahrscheinlich nachträglich noch gezügelt) gerät Kreisky ins Schwadronieren nach Altkanzler-Manier. Doch sogar diese Abschweifungen wecken Interesse, einfach durch die Art der Erlebnisse und die Autorität, die der Sozialdemokrat beim Erzählen ausstrahlt.
Es ist beeindruckend, wie Kreisky eine Chronik vom Österreich des 20. Jahrhunderts entwirft, indem er sich an der Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie und Politik orientiert und immer wieder treffende Analysen einfügt. Selbst in der Formulierung eines Zukunftsausblicks wähnt sich Kreisky in sicherer Spur: Er sagte 1986 die Entwicklung der Grünen zu einem ernstzunehmenden politischen Faktor genauso nachvollziehbar voraus, wie er dem Nahen Osten ein langlebiges Potenzial als Pulverfass bescheinigte.
Es ist jedoch die Krux einer Autobiografie, dass der Autor häufig dazu geneigt ist, das positive Licht zu nutzen, das ihm die Möglichkeit des Schreibens über sich selbst einräumt. Personen etwa, denen Kreisky von frühester Jugend an begegnet ist, sind vor allem erwähnenswert, weil sie später einmal mindestens Staatssekretär oder Bankdirektor geworden sind. Bezüglich seiner politischen Tätigkeit betont er dann häufig, wie er auf Lorbeeren verzichten möchte, dem Leser jedoch nach der Schilderung der Ereignisse keine andere Wahl lässt, als anzunehmen, Bundeskanzler Kreisky hätte mit einer dringend notwendigen Reform mindestens das Abendland vor dem Untergang gerettet.
Trotz dieser autobiografietypischen Attitüde muss man aber einräumen, dass Kreiskys Erinnerungen nicht nur überaus interessante Einblicke in die österreichischen politischen Verhältnisse geben – die gerade für den deutschen Leser Schlaglichter auf viele weniger bekannte Kapitel der österreichischen Geschichte werfen – sondern auch erzählerisch ein „Schmankerl“ sind.
Rezension: Tim Brückmann