Verfügte Caesar über die Gabe der distanzierenden Selbstbeobachtung durch den Mund anderer? Oder gar Augustus? Oder übt eine Macht, wie beide sie erlangten, nur aus, wer nicht neben sich stehen kann? Cicero jedenfalls kannte seine Schwäche, und in einer Rede berichtet er, wie ein anderer Senator bei einer der häufigen Selbstlob-Tiraden des Catilina-Bezwingers unwillig seufzte und den Sprecher halblaut als unerträglich schmähte.
Dieser hübsche Fund ist beileibe nicht der einzige in Wolfgang Schullers Buch, das auf zwei ähnlich angelegte Cicero-Biographien mittleren Umfangs aus der Feder an‧derer Autoren folgt (siehe DAMALS 8-2010, Seite 55, und DAMALS 2-2011, Seite 47). Der Konstanzer Emeritus legt keine neue Interpretation vor; vielmehr schildert er Ciceros Lebens- und Karriereweg chronologisch und so anschaulich wie möglich.
Mit Recht hebt er die frühe, nachhaltige Prägung durch die politischen und menschlichen Katastrophen des Bundesgenossenkrieges und die anschließende Diktatur Sullas hervor, die der junge Marcus erlebte. Auch danach war es „eine wilde Zeit, erfüllt von brutaler Gewalt, von Fehlurteilen, vom Wanken und schließlichem Einstürzen von sicher Geglaubtem, vom Zusammenbruch der bisherigen Ordnung“ – Ciceros „lebenslanges Trauma und Thema“.
Doch Schuller nimmt sich auch Zeit, die langen, zwar bewegten, aber historisch nicht wirklich bewegenden Phasen einer kaum durchschaubaren Innen- und Tagespolitik einsichtig zu machen. Hinzu kommen Erläuterungen zu den wichtigsten Schriften sowie zum Privat- und Innenleben, das wir durch die Briefe an Atticus so gut kennen wie keines einer anderen antiken Gestalt vor Augustinus.
Empathisch zeichnet der Autor das Bild eines leidenschaftlichen und unermüd‧lichen politischen Menschen, der zur Freundschaft befähigt war, Humor hatte und einen klaren Begriff von Ehre. Ciceros Leben gewann seinen Rhythmus zweimal durch einen Dreischritt, einen um das Konsulat herum, den zweiten in der kurzen Zeit nach Caesars Ermordung: Zielstrebiges Wirken wurde zunächst belohnt durch einen Aufstieg
an die Spitze, dem jeweils ein jäher Absturz folgte, zunächst in den 50er Jahren durch Exil und politische Bedeutungslosigkeit auf dem Spielfeld der Mächtigen, dann, im Jahr 43, durch den Tod von der Hand eines Killerkommandos. Schuller stellt den Akteur Cicero geboten ambivalent vor. Aber dem trotz aller Schwächemomente doch unerschrockenen Verteidiger der republikanischen Freiheit und der Macht des Wortes gilt am Ende seine Zuneigung. Als Verteidiger des Bestehenden genießt Cicero Kredit, weil ein Zeitgenosse des 20. Jahrhunderts in der Tat unruhig werden kann, „wenn er herannahende neue Zeiten gepriesen hört“ oder auch nur die Formel vom „prozesshaften Fortschreiten der Dinge“.
Rezension: Prof. Dr. Uwe Walter