Mit dem sogenannten Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland im Jahr 1938 begann nicht nur eine Zeit der Angst und Verfolgung für die jüdische Bevölkerung der Donau-Republik, damit einher ging auch der Untergang einer ganzen Welt: der Welt des Wiener jüdischen Großbürgertums.
Zu dieser buntgemischten Gesellschaft zählten Operettenkünstler wie etwa Victor Hirschfeld, Sohn eines ostjüdischen Rabbiners und Journalisten, der als Librettist der „Lustigen Witwe“ unter dem Namen Victor Léon bekannt wurde, oder Journalisten und Schriftsteller wie Annemarie Selinko, die Autorin des noch heute gelesenen Romans „Desirée“. Aber auch weniger bekannte Ärzte, Juristen, Fabrikanten, Wissenschaftler und Staatsbeamte waren Teil dieser vielfältigen Gruppe.
Die promovierte Historikerin und Autorin Marie-Theres Arnbom hat sich nun in ihrem neuesten Buch auf die Suche nach den Spuren dieser Welt begeben. Durch die biografische Schilderung einer Reihe von Einzel- und Familienschicksalen versucht sie den Mikrokosmos des jüdischen Großbürgertums in der Stadt Wien lebendig werden zu lassen. Ihr Werk bezieht sich dabei auf die Familien Hirschfeld, Bienenfeld und Koritschoner sowie das Leben der Annemarie Selinko. Es beruht auf ausgiebigen Recherchen in behördlichen Akten, Zeitungen sowie Briefen und Tagebüchern, aber auch auf Erinnerungen von Zeitgenossen und Nachgeborenen und ist mit historischem Bildmaterial unterlegt.
Arnboms Zugang ist dabei sehr persönlich: So geht die Auswahl der porträtierten Familien und Personen weniger auf allgemeine Kriterien als auf das Interesse der Autorin und ihre Verbindungen zurück. Im Fall der Familie Hirschfeld ist dies beispielsweise die Verwandtschaft mit einem der Nachfahren. Dadurch gelingt es Arnbom zwar, nahe an die einzelnen Lebensschicksale heranzukommen und diese in ihrer ganzen Reichhaltigkeit anschaulich wiederzugeben, die Zusammenstellung wirkt dennoch etwas beliebig. Die einzelnen, höchst unterschiedlichen Biografien stehen trotz einiger Verflechtungen recht unverbunden nebeneinander, die gemeinsame gesellschaftliche Zugehörigkeit und deren Bedeutung wird – genau wie die Stadt Wien als Schauplatz – kaum thematisiert. Der Fokus liegt vielmehr auf den individuellen Werdegängen.
Die Details und Anekdoten der beschriebenen Lebenswege geben insgesamt durchaus spannende Einblicke in das Leben des Wiener jüdischen Großbürgertums, ein umfassenderes Bild dieser Welt lässt sich aus dem Buch jedoch weniger gewinnen.
Rezension: Liza Soutschek