Es gibt Geschichten, die vermutlich in jeder Generation wenigstens einmal in Buchform zusammengefaßt werden müssen, um im kollektiven Gedächtnis der westlichen Zivilisation erhalten zu bleiben. Die Geschichte der Veränderungen des Weltbildes, der Entdeckungen und der Wandlungen weiträumiger Beziehungen und Verflechtungen gehören hierzu. Die Globalisierungsdebatte der Gegenwart bietet einen günstigen Anlaß, die genannten Aspekte wieder einmal aufzugreifen und neu zu strukturieren.
Holger Afflerbach fokussiert in seinem Buch „Das entfesselte Meer“ seinen Blick auf den Atlantik und bekennt sich zu einer europäischen Perspektive: Wie hat sich seit der Antike die Wahrnehmung des Ozeans, der Zugang zum Atlantik, seine Nutzung als Schiffahrtsweg verändert, welche Bedeutung hatte er in den großen Epochen der europäischen Geschichte? So etwa könnte man die leitenden Fragen formulieren, die sich durch das ganze Buch ziehen.
Bei diesen Fragen fühlt sich Afflerbach den Werken Fernand Braudels verpflichtet, insbesondere der großen Monographie über das Mittelmeer in der Epoche Philipps II. An diesem Vergleich und selbst gesetzten Maßstab wird aber auch ein Unterschied sichtbar: Bei dem weiten historischen Rahmen, den sich Afflerbach steckt, wird die exemplarische Vertiefung schwierig, die Braudel gelungen war. Im chronologischen Durchgang, der in der Antike einsetzt, als der Atlantik noch das Ende der Welt markierte, der weiter über das Mittelalter in das Zeitalter der großen Entdeckungen führt und dann den Bogen bis in die Zeit der Weltwirtschaft und der Globalisierung spannt, wird aus den Blickwinkeln Weltbild, Verkehrstechnik, Politik und Wirtschaft ein sehr facettenreiches Bild gezeichnet, das vor allem auf Zusammenschau ausgelegt ist und dieses Ziel auch erreicht. Einige Entwicklungsphasen werden besonders werden besonders vertieft, so die Rolle der Portugiesen unter Heinrich dem Seefahrer. Interessante Details ergeben sich aus dem technikgeschichtlichen Bezug, wenn auch die Bau- und Funktionsweise der Seeschiffe in die Diskussion einfließt.
Das Buch verzichtet nicht auf einen wissenschaftlichen Apparat und nennt weiterführende Literatur, wobei der Autor für manche Kapitel auf ältere Standardwerke zurückgreifen konnte. Zahlreiche Abbildungen lockern den Text etwas auf. Natürlich gibt es auch Desiderate, die aber aus der Gesamtkonzeption des Bandes verständlich werden: Man hätte sich vorstellen können, daß der Naturraum des Atlantik ausführlicher behandelt wird, weil sich daraus ein Blick auf Ressourcen und deren Nutzung ergeben hätte; die wirtschaftlichen Verflechtungen der Fischereiwirtschaft hätten sich angeschlossen. Aber man darf nicht übersehen, daß schon der weite historische Rahmen dem Autor Beschränkungen auferlegt. In der Diktion bleibt die Darstellung nüchtern und sachlich, verzichtet auf aufgesetzte Popularismen, läßt aber trotz der immer wieder formulierten, weiterführenden Fragen etwas Spannung vermissen. Dafür wird eine hohe Informationsdichte erreicht. Insgesamt handelt es sich bestimmt um ein Werk, das mit Gewinn gelesen wird.
Rezension: Stadelbauer, Jörg