Deutschsprachige Historiker betreiben immer noch am liebsten deutsche Nationalge?schichte. Selbst die Geschichte deutscher Außenpolitik oder des deutschen Kolonialismus findet normalerweise unter diesem Ansatz statt. Die einzige Alternative (neben der Beschäftigung mit den Nationalgeschichten anderer Länder) scheint bislang eine Form von Weltgeschichte zu sein, die vom Nationalstaat völlig abstrahiert und statt dessen globale Strukturen und Prozesse ins Auge faßt. Der vorliegende Sammelband versucht demgegenüber, den ersten deutschen Nationalstaat, das Kaiserreich, in seinen „grenzüberschreitenden Beziehungen“ zu erfassen. Das geht über Außenpolitik, Außenhandel und Kolonialismus weit hinaus, erstreckt sich vielmehr auf Wissenschaft, Kultur, Alltag, Arbeits- und Sprachenpolitik. Der Band bietet hier ein weites Spektrum, und die Perspektive, von innen nach außen, oder umgekehrt, ist nicht vorgegeben. Alles, was das Kaiserreich in einer sich rapide globalisierenden Welt an grenzüberschreitenden Aspekten, Beziehungen, Verflechtungen aufzuweisen hatte, haben die Beiträger dieses Bandes ins Visier genommen. Vieles ist Übersee, aber nicht alles; transnational war eben auch das alte Preußen als multiethnisches Imperium, was keinesfalls nur die polnischen Teilungsgebiete anspricht. Das Bändchen bietet in 13 Beiträgen teils wissenschaftlich etablierter, teils direkt aus der empirischen Forschung berichtender Autoren eine gelungene Mischung von Themen. Für einmal wäre es ganz müßig, die inhaltliche Disparatheit eines Sammelbandes zu bemängeln; der Kaleidoskopcharakter ist hier gerade das Interessante. Nicht alle Aufsätze sind von gleicher Qualität, aber insgesamt überwiegen die erfreulichen, die anschauliche Erzählung mit weiterführender Reflexion verbinden. Die Einleitung der Herausgeber und ein bilanzierender Essay von David Blackbourn binden die Beiträge sinnvoll zusammen.
Rezension: Walter, Dierk