Leben interessiert! Seit sich die Geschichtswissenschaft von den Ideen und Strukturen wieder den Menschen zuwendet, treten die elementaren Dinge in den Blick: die Zyklen von der Geburt bis zum Tod, das Verhältnis zur Natur oder zu den Tieren, das Individuum und die Gruppe, das Wissen oder die Seele.
Der inzwischen emeritierte Pariser Historiker Robert Fossier veröffentlicht jetzt ein Buch über das Leben im Mittelalter jenseits der ausgetretenen Pfade von Haupt- und Staatsaktionen. Natürlich weiß der Autor, dass er die Vielfalt eines Jahrtausends nicht in knapp 500 Seiten einfangen kann. Und er versucht es auch nicht wie manche seiner französischen Kollegen mit repräsentativen Typenbildungen. Vielmehr erzählt er aus seinem reichen Wissensschatz, um „eine Darstellung des kleinen Mannes im Alltag“ jenseits aller theoretischen Konzepte zu bieten.
Das Ergebnis ist ein sehr subjektives Buch, das sich gar nicht erst um europäische Weite bemüht. Fossiers ganzes Mittelalter ist vor allem das kleine französische Mittelalter des 12. bis 14. Jahrhunderts. Seine Erzählung bietet die eigene Bewältigung des Fremden wie des Elementaren. Die Gedankenreihungen lesen sich gut, ohne die Quellennähe und damit die Farbigkeit von Arno Borsts Klassiker „Lebensformen im Mittelalter“ zu erreichen. Der ehrgeizige Entwurf lebt mit vielen offenen Flanken und provoziert manchmal Widerspruch.
So wussten die mittelalterlichen Christen zwar, wie fern ihr Paradies lag; doch sie hätten es nicht „im Reich des Islam“ angesiedelt, sondern ganz im Osten jenseits von Indien. Und dass der mittelalterliche Mensch „im Tier vor allem das Symbol“ suchte, denkt sich nur ein Historiker aus. Trotzdem gelingen diesem eindrucksvolle Passagen zur Angst vor dem Wolf oder zur Ambivalenz des Feuers. Deshalb nimmt man im aktuellen Mittelalter-Boom dieses Buch gern zur Hand, weil es vieles enthält, was „sonst kaum oder nur am Rande zur Sprache kommt“.
Rezension: Schneidmüller, Bernd