Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

Das letzte Kapitel – Der Mord an den ungarischen Juden

Gerlach, Christian/Aly, Götz

Das letzte Kapitel – Der Mord an den ungarischen Juden

Nachdem im Frühjahr 1944 Ungarn von deutschen Truppen besetzt wurde, setzte auch dort der Judenmord ein. Bis Juli 1944 wurden die meisten der außerhalb von Budapest lebenden Juden nach Auschwitz deportiert, partiell zur Zwangsarbeit gezwungen, zu einem großen Teil aber sofort durch Gas ermordet. Im Herbst 1944 wurde dann von den Deutschen der ungarische Reichsverweser Horthy entmachtet, um Ungarns Austritt aus dem Krieg zu verhindern, die ungarischen faschistischen Pfeilkreuzler putschten sich an die Macht, und grausame Märsche und Transporte zu vornehmlich westwärts gelegenen Zwangsarbeitsorten brachten nun auch den bis dahin weitgehend verschonten Juden der Hauptstadt den Tod. Diese Fakten sind bekannt und häufig dargestellt worden. Kann man da noch etwas Neues herausfinden? Man kann! Gerlach und Aly verknüpften schon vorher die deutschen Massenmorde mit dem kalten Kalkül einer wissenschaftlichen Rationalität. Eben dies wollen die Verfasser nach Polen und der besetzten Sowjetunion nun auch auf Ungarn zu übertragen. In ihrem neuen Buch „Das letzte Kapitel. Der Mord an den ungarischen Juden“ suchen sie sowohl für die deutsche als auch für die ungarische Seite nach den Handlungsbegründungen, die es den Akteuren gestatteten, die Vorgänge von 1944 als Lösung aufkommender Probleme und damit funktional – im Gegensatz zu ideologisch bedingt – zu begreifen.

Ihr Szenario gestaltet sich folgendermaßen: Ungarn hatte bis 1944 kaum seine sozialen Probleme angegangen und mußte, je weiter der Krieg fortschritt, mit sozialen Schwierigkeiten rechnen. Für Deutschland war das Land ökonomisch wichtig, daher war die Entscheidung, es am 1944 drohenden Frontwechsel zu hindern, rational. Dabei hinderte die ungarische Souveränität die Deutschen daran, über die Köpfe der Ungarn hinweg die Juden zu ermorden. Daher – so der Tenor – sei es der ungarische Faktor gewesen, der die Deportationen und Morde erst möglich gemacht habe.

Für Teile der magyarischen Eliten schien die Deportation der Juden eine günstige Gelegenheit zu sein, viele Probleme zu lösen. Mit den durch antisemitische Diskurse vorbereiteten, auf Zustimmung gerade der sozial Benachteiligten treffenden Aktionen gegen die Juden gewann man Land für den ungarischen Landhunger, ohne den magyarischen Großgrundbesitz angreifen zu müssen, und man überwand vorübergehend durch die mit der Deportation verbundenen Raubmaßnahmen die wirtschaftlichen Auswirkungen der Kriegswirtschaft. Eines der spannendsten Kapitel handelt davon, wie gekonnt einerseits den Todgeweihten ihr Vermögen geraubt wurde, andererseits aber auch die Verteilung des Raubguts den Staat als Wohltäter erscheinen ließ, und wie dieser damit inflationsdämpfende Maßnahmen verband.

Auch die deutsche Seite erscheint in einem „rationalen“ Kontext. Wegen der fortbestehenden ungarischen Souveränität und der Rücksicht, die die Deutschen nachweislich darauf nahmen, konnten die Besatzer nur mit „Bitten“ an die ungarische Verwaltung operieren. Militärischen Druck gab es gerade zur Zeit der Deportationen bis Mitte 1944 nicht: im Gegenteil wurde das Militär zu dieser Zeit abgebaut und erst im August 1944 verstärkt, als sie vorbei waren. Und am überraschendsten – das deutsche Verlangen nach Zwangsarbeitern sei real gewesen. 1944 habe eben nicht mehr Vernichtung, sondern rein materielle Nutzung der verbliebenen Juden Europas im Vordergrund gestanden. Ermordet worden seien die tatsächlich Arbeitsunfähigen, während für die Arbeitsfähigen, wenngleich unter schrecklichen Bedingungen, gewisse Überlebenschancen bestanden hätten. Nicht einmal die Irrationalität der Belastung der eigentlich für militärische Zwecke gebrauchten Transportwege mit Deportationszügen bleibt als „unsinniges“ Element bestehen: Als die Deportationen nach Auschwitz stattfanden, seien die benutzten Nebenstrecken wenig befahren gewesen und die Deportationszüge hätten nur einen minimalen Aufwand erfordert.

Selbst die winterlichen Todesmärsche und Zwangsarbeiterrekrutierungen in Budapest, die einsetzten, nachdem Horthy am 15. Oktober 1944 Ungarns Kriegsaustritt erklärt hatte und nun doch die Pfeilkreuzler und die ihnen nahestehenden Deutschen selber agieren konnten, werden primär „rational“ erklärt. Die Grausamkeiten und Massenmorde seien neben dem Sadismus der Täter nicht zuletzt dem Umstand zuzuschreiben gewesen, daß der Einsatz der Arbeitskräfte im zusammenbrechenden Reich gar nicht mehr durchzuführen gewesen sei.

Anzeige

Die Verfasser zeigen damit die ungarische Shoa als weitgehend ungarisch begründete und (bis auf den Mord selber) ungarisch durchgeführte Aktion. Diese resultiert aus einem historischen Ablauf, der sich aus den sozialen Problemen und den antisemitischen Phantasien der Zwischenkriegszeit ableiten läßt. Die Autoren gehen in der Historisierung sogar noch weiter, wenn sie die Deportation der Deutschungarn nach 1944 als Fortsetzung dieser Praxis sehen.

In der Radikalität der Neubewertung entspricht das Buch den früheren Arbeiten der Verfasser. So wird es sicherlich ebenso verdientes Lob von denjenigen erhalten, die die Shoa als etwas ansehen, was „mit den normalen Mitteln der Historiographie untersucht werden muß und erst so verstanden werden kann“, und die Kritik derer, die der „reduktionistischen Sicht“ huldigen und in „das Entsetzliche ins Unbegreifliche“ überhöhen und den Mord an den ungarischen Juden als „dramatische[n] Höhepunkt des puren nazistischen Vernichtungswillens“ begreifen.

Letzteren leisten die Verfasser leider unnötig Vorschub. Sicher ist die Quellenbasis umfassend, aber da sie weder Ungarisch noch Hebräisch beherrschen, konnten Gerlach und Aly nur Teile der Budapester und Jerusalemer Archivalien nutzen, und sie referieren die meisten ungarischen Texte nach fragwürdigen zeitgenössischen Übersetzungen oder deutschen Berichten.

Es ist schwer zu beurteilen, ob Originalquellen einige der Befunde für die ungarische Seite revidiert hätten. Vielleicht nicht einmal sehr weitgehend. Für ein so wichtiges Buch hätte man aber schon erwarten können, daß sich die Verfasser wenigstens Grundkenntnisse der Landessprache angeeignet oder, umfassender als geschehen, Hilfe in Anspruch genommen hätten.

Ärgerlicherweise äußerlich sichtbar ist das Manko – was die Verfasser freimütig als „Nachlässigkeit“ einräumen – an den ungarischen Eigennamen, die ohne Rücksicht auf die Orthographie wiedergegeben werden. Die Arbeit ist kein Schnellschuß, die Verfasser hätten ihrem wichtigen und interessanten Anliegen mit etwas mehr redaktioneller Sorgfalt einen Gefallen getan.

Rezension: Golczewski, Frank

Gerlach, Christian/Aly, Götz
Das letzte Kapitel – Der Mord an den ungarischen Juden
Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart/München 2002, 483 Seiten, Buchpreis € 35,00
Anzeige
DAMALS | Aktuelles Heft
Bildband DAMALS Galerie
Der Podcast zur Geschichte

Geschichten von Alexander dem Großen bis ins 21. Jahrhundert. 2x im Monat reden zwei Historiker über ein Thema aus der Geschichte. In Kooperation mit DAMALS - Das Magazin für Geschichte.
Hören Sie hier die aktuelle Episode:
 
Anzeige
Wissenschaftslexikon

Kehl|de|ckel  〈m. 5; Anat.〉 knorpelige Klappe, die beim Schlucken den Eingang der Luftröhre verschließt, damit keine Nahrungsteile hineingelangen: Epiglottis

An|the|mi|on  〈n.; –s, –mi|en; grch. Arch.〉 Schmuckfries aus Palmblättern u. Lotosblüten in der grch. Baukunst [zu grch. anthos … mehr

Hom|a|tro|pin  auch:  Ho|mat|ro|pin  〈n. 11; unz.; Pharm.〉 chem. Verbindung von Mandelsäure u. Tropin, das zur kurzfristigen Pupillenerweiterung verwendet wird … mehr

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige