Am Denkmal Karl Renners, des Staatskanzlers und späteren Bundespräsidenten, wurde in Österreich zuletzt heftig gekratzt. So ist es besonders verdienstvoll, dass sich der Berliner Politikwissenschaftler Richard Saage des komplexen Themas angenommen hat. Sein Werk stützt sich vor allem auf den Renner-Nachlass und das sehr umfangreiche gedruckte Œuvre des Politikers.
Wie der Autor völlig zutreffend feststellt, ist Renner nur zu verstehen, wenn man seine südmährische Kindheit und Jugend in den Blick nimmt. Als Sohn einer tiefreligiösen kleinbäuerlichen Familie erlebte dieser deren sozialen Abstieg, dem er einen ausgeprägten Aufstiegswillen entgegensetzte. Der hochbegabte Schüler fand Unterstützer, allen voran Eugen von Philippovich, der Renner nach dem Studium in Wien den Eintritt in den Staatsdienst ebnete.
All das machte Renner zum Reformmarxisten, aber nicht zum Revolutionär. Eher durch Zufall gelangte er 1907 vom sicheren Staatsdienst in die Politik. Damit begann der steile Aufstieg des „k. u. k. Marxisten“ (Leo Trotzki) Renner zum Staatskanzler der Ersten Republik. In seinem politischen Leben vollbrachte Renner zweimal herausragende Leistungen: in der Zeit von 1918 bis 1920 und von 1945 bis 1950. Da erwies er sich in der Ausnahmesituation nach den beiden Weltkriegen als der ideale erste Mann im Staat, durchdrungen von sozialdemokratischen Grundsätzen, aber immer mit dem Blick für das Mögliche. So in St. Germain, als er – besonders bitter für den Deutschmährer – den Verlust der deutschsprachigen Gebiete der böhmischen Länder, der Untersteiermark und Südtirols zur Kenntnis nehmen musste, aber in Südkärnten und im westungarischen Burgenland rettete, was gerettet werden konnte.
Nach Kriegsende 1945 brachte er das Kunststück zuwege, im virtuosen Spiel zwischen Stalin und den skeptischen Westmächten eine Teilung Österreichs zu vermeiden, und „trickste“ dabei alle aus (so Mark Clark, der US-Hochkommissar für Österreich). Aber der manchmal bis zum Opportunismus wendige Politiker Renner war nur die eine Seite der Medaille, die andere war ein an der Empirie orientierter „induktiver“ Marxismus als unverzichtbare ideologische Grundlage. Und da war schließlich der Humanist Renner, der große Hoffnungen auf eine gesellschaftliche Reform jenseits des Nationalstaats setzte.
Saage verschweigt nicht die dunklen Punkte in Renners Leben, die er allerdings in ihren historischen Kontext stellt. Zu diesen zählten Renners Eitelkeit und mehr antitschechische denn antisemitische Ressentiments, gleichwohl eine gewisse Gefühlskälte gegenüber den jüdischen Opfern des Holocaust. Die unaufgefordert gemachte Empfehlung Renners aus dem April 1938, mit „Ja“ für den „Anschluss“ zu stimmen, sieht Saage hingegen weniger im Opportunismus Renners begründet als in der Angst vor einer KZ-Haft, die der 70-Jährige wohl nicht überlebt hätte.
Insgesamt hat Richard Saage eine Neuinterpretation von Leben und Werk Karl Renners vorgelegt, die, trotz mancher Lücken in der verwendeten Forschungsliteratur, voll überzeugt.
Rezension: Dr. Andreas Weigl