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Der taumelnde Kontinent – Europa 1900-1914

Blom, Philipp

Der taumelnde Kontinent – Europa 1900-1914

Der originäre Antrieb der Geschichtsforschung bestand einst darin, vergangene Zeiten aus sich selbst heraus zu verstehen und nicht aus der Rückschau zu richten. Gegen diesen Anspruch haben Historiker stets verstoßen; ganz erfüllen lässt er sich nie. Das neue Buch des deutschen Historikers und Journalisten Philipp Blom „Der taumelnde Kontinent. Europa 1900–1914“ beschert jedoch einen kräftigen Schub in die eingangs umschriebene Richtung. Die Zeit vor 1914 erscheint im Nachhinein vielen als Vorspiel zum Ersten Weltkrieg oder als verlorenes Paradies. Wie Blom zeigt, war sie in ihrer Eigensicht weder das eine noch das andere, vielmehr eine Ära des beschleunigten Tempos und der ästhetischen und sexuellen Revolution, gewiss auch der Flottenmanie und der Kongo-Greuel, jedoch zugleich der frühen Frauen- und Friedensbewegung.

Blom bestätigt die neue Interpretation der Vorkriegszeit: Der große Umbruch zur heutigen Moderne geschah schon damals, nicht erst nach 1918. Er gibt ein buntes und aufregendes Panorama der Zeit, eine Zusammenschau von Politik und Wirtschaft, Technik und Kultur, Sex und Neurosen. Das Problem bei einem solchen Panoptikum ist stets die innere Struktur. Bloms roter Faden ist vor allem die Zeitkrankheit Neurasthenie (Nervenschwäche); ihren Hauptgrund erblickt er in der Angst um die Männlichkeit.

Vielen Fachleuten mag das abenteuerlich klingen; es hat jedoch eine Basis in Quellen jener Zeit. Aus Patientenakten der Nervenheilstätten kann man in der Tat den Eindruck gewinnen, das brennendste Problem damals seien weder Militarismus noch Sozialismus gewesen, sondern der „Onanismus“. Im Jahr 2000 wurde auf dem Neurasthenie-Symposium in Amsterdam deutlich, dass wohl die Deutschen an der Spitze derjenigen standen, die sich von der Neurasthenie befallen glaubten; bei Blom sind die Franzosen den Deutschen in ihren Ängsten sogar noch voraus. Und auch im Antisemi‧tismus.

Der Autor wagt sich in Bereiche, wo es wenig gesicherte Kausalitäten gibt, und über viele Einzelpunkte ließe sich streiten. Insgesamt ist das Buch mehr Reportage als Analyse, und es konzentriert sich mehr auf das Bizarre als auf das Typische. Aber es ist amüsant geschrieben und von Entdeckerlust inspiriert: ein Lesegenuss, wie geschaffen dazu, dieses zum Überdruss beackerte Geschichtsterrain wieder frisch und neu zu erleben.

Rezension: Prof. Dr. Joachim Radkau

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Blom, Philipp
Der taumelnde Kontinent – Europa 1900-1914
Carl Hanser Verlag, München 2009, 528 Seiten, Buchpreis € 25,90
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