Paris war über Generationen für Deutschlands kulturelle Elite nicht einfach die Stadt der Städte, sondern auch der Ort einer intensiven literarischen Begegnung. Walter Benjamin hat den produktiven „Paris-Kick“ 1930 so beschrieben: „Kaum hat man die Stadt betreten, so ist man beschenkt. Vergeblich der Vorsatz, nichts über sie niederzuschreiben. Man baut sich den vergangenen Tag auf wie Kinder am Weihnachtsmorgen sich den Gabentisch wieder aufbauen, auch das ist ja eine Art zu danken.“ Wir verdanken dieser ansteckenden Verbindung von Sehen und Schreiben eine Vielzahl eindrucksvoller Impressionen. 300 Berichte aus der Zeit von 1789 bis 1933 hat Gerhard R. Kaiser jetzt in einem lesenswerten Buch versammelt.
Die erste Welle deutscher Paris-Pilgerschaft löste natürlich der Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789 aus. Staunend verfolgte man den Zusammenbruch des Ancien Régime und das Werden von etwas Neuem, und auch wenn dieses Neue sich bald als ambivalent herausstellte, genoss man doch den Rausch, den die Bewegung erzeugte. Kern der Texte waren in dieser Phase die politischen Veränderungen.
Georg Forster etwa beschreibt das Phänomen der öffentlichen Meinung, in der er „Werkzeug und Seele“ der Revolution erblickte. Georg Anton von Halem schildert eine Sitzung der Nationalversammlung, Johann Friedrich Reichardt den Talentschub, den die égalité auf das Militär ausübte. Immer geht es um Aufklärung des heimischen Publikums, so, wenn Friedrich Schulz erklärt, dass das furchterregende Lanternieren (das Erhängen von vermeintlichen politischen Gegnern) keineswegs an Laternenpfählen geschah, sondern vermittels der Reverberen, der über die Straße gespannten Leinen, an denen die Lampen befestigt waren.
Das politische Interesse blieb in der gesamten Revolutionsepoche dominant. 1830 und noch einmal 1848 war Paris abermals der Ort, der die Weltgeschichte auf Trab brachte. Die Berichte Ludwig Börnes und noch mehr Heinrich Heines erreichten journalistische Spitzenqualität. Später dann, als Paris als Zugpferd der politischen Vorwärtsbewegung abgesattelt hatte, ging der Blick mehr in die Breite. Man beschäftigte sich nun mit dem Theater, mit der Café-Szene, der Architektur Haussmanns, den Weltausstellungen oder auch den Amüsiervierteln.
Kaisers Buch ist übersichtlich und logisch gegliedert. Was man sich gewünscht hätte, sind Kurzbiographien der Autoren. Davon abgesehen, beschert die Lektüre Genuss und viel Erkenntnisgewinn. Fast jeder Einzelbericht ist lesenswert. Der eigentliche Effekt stellt sich aber erst ein, wenn man die Sammlung in Gänze nutzt. Dann wird aus den Miniaturen ein bewegtes Panorama, das spürbar macht, was Kaiser „Zeiterfahrung“ nennt.
Die Zeit, das wusste schon Ludwig Börne, fühlt sich in Paris anders an. 1829 notierte er: „Wer lange leben will, der bleibe in Deutschland, besuche im Sommer die Bäder und lese im Winter die Protokolle der Ständeversammlungen. Wer aber Herz genug hat, die Breite des Lebens seiner Länge vorzuziehen, der komme nach Paris“.
Rezension: Dr. Günter Müchler