Dieses „vollendete unvollendete Buch“ ist einer tückischen Krankheit abgerungen, die den Sachbuchautor Ralf-Peter Märtin rasch stark einschränkte und ihm schließlich im vorigen Jahr den Tod brachte. Der Schriftsteller Christoph Ransmayr, ein enger Freund, berichtet in seinem bewegenden Nachwort von gemeinsamen Bergtouren, die mitunter gefahrvolle Grenzerfahrungen brachten. Der Leser ist gehalten, dieses zuerst zu lesen; manche Eigenheiten des viel umfassender geplanten Buchs erscheinen so in einem anderen Licht.
Dies betrifft etwa die nüchterne Auflistung der Krankheiten des berühmten „Ötzi“: Peitschenwurm-Larven im Darm plagten ihn mit Durchfall, hinzu kamen zeckenübertragene Borreliose, Arterienverkalkung und Arthrose. Sein außerordentlich gut erhaltener Leichnam wurde 1991 gefunden – eine Sensation ersten Ranges. Über sein Ableben wird noch immer diskutiert: Klar ist, dass Ötzi mehrere schwere Verletzungen kurz vor seinem Tod erlitt, doch von wem wurden sie ihm zugefügt? Märtin referiert die Vermutung, der Gletschermann könnte als ehemaliger Fürst seiner Gruppe rituell geopfert worden sein, um die Götter gnädig zu stimmen.
Die ersten beiden Kapitel über den Ötzi sowie die Bronze- und die Eisenzeit sind als ökologische Geschichte lesenswert. Man wird belehrt über die Wirkung der Gletscher, die die Alpen erst bewohnbar machten, über das kupferbasierte Fernhandelssystem der Bronzezeit, in dem die Region für ganz Europa eine zentrale Rolle spielte, und liest von der egalisierenden Wirkung des Umstiegs auf Eisen sowie den Salzbergbau in Hallstatt und anderen Orten.
Skizzenhafter ausgefallen sind die titelgebenden Kapitel; am Ende stehen die Spätantike mit ihren Migrationen und der Christianisierung der Alpenregion. Für Hannibals Alpenübergang schildert Märtin zuvor nicht nur die verschiedenen Theorien über den Weg, er macht auch plausibel, dass Hannibal selbst die Verluste auf dem Marsch übertrieb und diese Angaben sich dann in der antiken Überlieferung festsetzten.
Leider fast nichts erfährt der Leser über die inneren Verhältnisse der alpinen Stammesverbände und Dorfgemeinschaften. Wer postkolonial geprägt ist, wird bei dem Satz aufstöhnen, erst der Straßenbau der Römer habe „aus einer Region unruhiger Stämme eine Transitzone, von der alle profitierten“, gemacht. Aber trifft er nicht das Richtige?
Rezension: Prof. Dr. Uwe Walter