Es gibt Bücher, die neue Welten erschließen können. Adam Toozes „Sintflut“ ist ein solches intellektuelles Abenteuer. Der Autor wurde durch seine Geschichte der nationalsozialistischen Wirtschaft mit dem Titel „Ökonomie der Zerstörung“ (München 2006) international bekannt. In seinem neuen Werk versucht er die Epoche davor zu verstehen.
Seine Originalität besteht dar‧in, danach zu fragen, was die internationale Ordnung seit dem Ersten Weltkrieg zusammenhielt. Denn die Katastrophe von 1933 kam unerwartet. Die „Sintflut“, auf die der Titel anspielt, ist die globale Welle der Demokratisierung, die schon vor 1914 begonnen hatte und sich nach dem Krieg mit ungeheurer Geschwindigkeit fortsetzte. Statt den Zusammenbruch herbeizuschreiben und hinter jeder Wendung des Geschehens schon das Ende vorauszuahnen, kehrt Tooze die konventionelle historische Optik um.
Den Zeitgenossen, ihrem Handeln, ihren Hoffnungen und ihren Erwartungen in einer unübersichtlichen Lage lässt er Gerechtigkeit widerfahren – und damit wird „Sintflut“ auch zu einem erstaunlich aktuellen Buch. Wenn er die Konstituierung der modernen Demokratie verfolgt, die Mechanismen der internationalen Zusammenarbeit errichtete, dann ist das eine Geschichte für die Gegenwart des Jahres 2015. Tooze rekonstruiert die nach 1918 geschaffene internationale Ordnung aus ihrem eigenen Horizont heraus. Für die Menschen damals war dies eine angemessene Antwort auf die neue Situation nach dem Ersten Weltkrieg. 1929 sprach Winston Churchill von einer dauerhaften Ordnung des Friedens und der Stabilität. Auch in Deutschland war das demokratische Denken weit verbreitet. Gerade weil diese Nachkriegsordnung den Zeitgenossen so stabil erschien, als die einzig mögliche Zukunft, gerade weil er in den1920er Jahren an diesem System gescheitert war, mobilisierte Adolf Hitler eine nie dagewesene Orgie der Gewalt, um die demokratische Ordnung zu zerstören.
Zuvor war eine neue Normalität, von Amerika ausgehend, zur politischen Leitidee geworden: freier Welthandel und integrierte Finanzmärkte, liberale Werte und eine kooperative Weltordnung, Demokratie, Sozialpolitik, eingeschränkte Souveränität, die globale Hegemonie der USA, das Zugeständnis an andere politische Gebilde, mit ihrer eigenen Entwicklungsgeschwindigkeit langfristig in diese Ordnung hineinzuwachsen. Das war der Horizont der Zeit. Diese „Realpolitik des Fortschritts“ hätte beinahe sogar die „Große Depression“ von 1931 überstanden.
Tooze macht diese Geschichte, in der alles schon klar zu sein schien, wieder spannend, er zeigt, dass Geschichte vor allem Handeln in unberechenbaren Situationen – und „Alternativlosigkeit“ das Gegenteil von Geschichte – ist. Dass Demokratie und Kapitalismus in einem Spannungsverhältnis stehen, dass aber nicht jede Krise zum Untergang führt, haben wir in den letzten Jahren wieder gelernt. Die enorme Leistung, ein so fragiles politisches Geschöpf wie die Demokratie in unruhigen Zeiten aufzubauen und zu stabilisieren, wird in Toozes Buch sichtbar. Im letzten Satz spricht er von „einer offenen, noch längst nicht abgeschlossenen Geschichte“.
Rezension: Dr. Tim B. Müller