Gleichheit, ein Leben in Freiheit und das Streben nach Glück – das sind die unveräußerlichen Rechte eines jeden Menschen, die in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 als „selbstverständliche Wahrheiten“ postuliert wurden. Wer aber hatte Anspruch auf diese Rechte? Wer galt als Mensch? Wer war vom vermeintlich allgemein zugänglichen Genuss von Bürger- und Menschenrechten ausgeschlossen? Wie und warum wandelten sich gesellschaftliche Privilegien und Formen von Diskriminierung im Verlauf der Geschichte?
Mit diesen Fragen befasst sich Jill Lepore in ihrer ungemein lesenswerten neuen Gesamtdarstellung der US-amerikanischen Geschichte, die von der Entdeckung der beiden Amerikas bis in die Gegenwart reicht. Dabei geht es Lepore, deren Buch 2018 auf Englisch erschien und große Aufmerksamkeit erregte, um eine Geschichtsschreibung mit neuen Akzenten.
Die Harvard-Professorin, die auch regelmäßig für die Zeitschrift „The New Yorker“ schreibt, zeichnet die großen politischen, sozial- und wirtschaftshistorischen Entwicklungslinien der amerikanischen Geschichte nach. Darüber hinaus aber interessieren sie die Geschichten der gesellschaftlichen Gruppen, die in vielen Gesamtdarstellungen noch immer eher am Rand Erwähnung finden. Allen voran sind das Afroamerikaner und Afroamerikanerinnen, aber auch indigene Gemeinschaften und Vertreter anderer gesellschaftlicher Gruppen, die vor allem eines nicht waren: weiß, männlich und wohlhabend.
Häufig verfolgt Lepore dabei die Spuren von eher unbekannten Einzelpersonen wie Jane Franklin, der Schwester des Gründervaters und Erfinders Benjamin Franklin, oder von Maria M. Stewart, einer afroamerikanischen Publizistin und Gegnerin der Sklaverei. Damit gelingt es ihr, auch einfache Menschen jenseits der großen Politik zu Wort kommen zu lassen, ohne ins Belanglose abzugleiten.
Themen wie Expansion, Sklaverei und Rassismus hingegen halten die Entwicklungsgeschichte der US-amerikanischen Nation zusammen. Dieser Wechsel zwischen Makro- und Mikroebene erzeugt erzählerische Spannung in einem Buch, das auch in seiner deutschen Übersetzung die Erzählkunst seiner Autorin verdeutlicht.
Wie andere Gesamtdarstellungen hat Lepores Buch blinde Flecken. Militär- und Wirtschaftsgeschichte sind nicht ihre Sache. Dafür liefert sie aufschlussreiche Kapitel zur Zeitgeschichte, die auch auf wichtige technik- und kulturhistorische Aspekte wie das Internet, die Mobilkommunikation und die sozialen Medien eingehen. Die politischen Entwicklungen seit der letzten Präsidentschaftswahl 2016 werden eingeordnet, wobei Lepore keinen Hehl aus ihrer liberalen Einstellung macht. Ihr Buch taugt als Anregung zum Nachdenken über die Vergangenheit und deren Implikationen für die Zukunft eines Landes, das, in Lagerkämpfe verstrickt, vor einer neuerlichen Präsidentschaftswahl steht.
Rezension: Prof. Dr. Anke Ortlepp
Jill Lepore
Diese Wahrheiten
Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika
Verlag C. H. Beck, München 2019, 1120 Seiten, € 39,95