Vielleicht ist es in einer Zeit, in der biblische Überlieferungen immer mehr ihren Wert als die Gesellschaft prägende und sinnstiftende Texte verlieren, notwendig, dass ein Außenstehender, ein Ägyptologe, sich diesen Texten wieder neu zuwendet und ihnen neuen Lebensgeist einhaucht.
Der Ägyptologe Jan Assmann widmet sich dem biblischen Thema des Exodus und kommt schon auf den ersten Seiten zu dem Ergebnis, dass bezüglich des Exodus die „Fragen nach der historischen Wirklichkeit … ins Leere“ führen. Der heutige Textinhalt ist weder für Ägyptologen noch für Archäologen als historisches Ereignis beweisbar. Allerdings sieht Assmann in der Exodus-Geschichte in ihrem Kern durchaus historische Elemente, wenngleich aus unterschied‧lichen Zeiten. Wenn aber das literarische Werk in seinem Gesamtduktus historisch nicht belegbar ist, dann ist es entweder aus historischer Perspektive völlig wertlos (fiktional), oder es muss mit einem neuen Wert gefüllt werden.
Assmanns methodischer Zugang ist die Gedächtnisgeschichte: die Frage, wie eine Geschichte jeweils zu ihrer Zeit gesehen, gelesen und neu interpretiert wurde. Wann, warum, in welcher Form, von wem und für wen erinnerte man sich an diese alten Überlieferungen und zog sie zur Deutung der jeweiligen Gegenwart heran? Methodisch verbindet er hier Redaktions- mit Wirkungsgeschichte und führt damit auch zeitlich über den Rahmen der Literaturgeschichte des Alten Testaments hinaus.
Ein wichtiger solcher Kristallisationspunkt für eine Erinnerung ist die nachexilische Zeit, die – wie Assmann zeigt – viele inhaltliche Berührungspunkte mit der Zeit des Exodus hat. Assmann setzt die alte exegetische Erkenntnis, dass große Teile in ebendieser Zeit verfasst wurden (die sogenannte Priesterschrift), dabei voraus. Ihm geht es aber um den Sinn der Überlieferung. Die Exodus-Geschichte ist für ihn ein Akt einer Erinnerung, und im sich wiederholenden Erinnern an die Vergangenheit praktiziert der Leser eine Form des Glaubens bzw. der Treue an den Bund Gottes mit den Menschen. Wahrheit als leitende Größe für einen überlieferungswerten Text besteht dabei nicht in „historischer Wahrheit“, sondern ist sinnstiftend auch und gerade in der Fiktionalität eines Textes, der für eine bestimmte Zeit geschaffen wurde und damit Wahrheit begründen will.
In diesem Sinn kommentiert Assmann dann abschnittsweise die ganze Exodus-Geschichte. Er sagt aus der Sicht eines historisch-kritisch arbeitenden Exegeten nichts wirklich Neues. Aber er sagt es anders, und vielleicht in einigen Punkten auch besser, als es die Bibelwissenschaftler bisher zu sagen vermochten. Eine höchst anregende Lektüre!
Rezension: Prof. Dr. Wolfgang Zwickel