Von der Erstürmung Jerusalems 1099 bis zum Verlust der Hafenstadt Akkon 1291 haben abendländische Christen mit Muslimen im Heiligen Land lange Zeiten in Frieden gelebt; doch bei Kriegen, Belagerungen und Überfällen haben beide Seiten auch schwere Verluste erlitten. Philippe Goridis erforscht in seiner Zürcher Dissertation Schicksale von Christen, die in Gefangenschaft geraten waren. Gestützt auf Augenzeugen‧berichte, Chroniken, Epen, Heiligenleben, Rechtstexte und Münzen sowie die wissenschaftliche Literatur, arbeitet er die unterschiedlichen Sehweisen lateinischer und orientalischer Christen heraus.
Nach behutsamem Abwägen trennt er Fakten (soweit sie feststellbar sind) von Gemeinplätzen, etwa, dass die Gefangenen in Kerkern und Ketten gelegen hätten oder die muslimische Prinzessin sich in den gefangenen Christen verliebt habe, und von der Deutung durch die Handelnden bzw. den Erleidenden. Diese sahen in ihrem Schicksal eine Prüfung durch Gott bis hin zu Martyrium und Strafe für ihre Sünden. Für Tiefenschärfe sorgen Rück- und Aus‧blicke in die Spätantike bzw. in die Neuzeit sowie ein Vergleich mit der Behandlung von Gefangenen im christlich-muslimischen Spanien. Der Wechsel von Überblicken mit Fallstudien sowie Zusammenfassungen erleichtert die Lektüre.
Die Arbeit zeigt im Ergebnis, dass ranghohe christliche Gefangene meist gut behandelt worden sind; ihr Schicksal hat im Orient und im Westen reges In‧ter‧esse gefunden. Gefangenschaften haben im sozialen, politischen und wirtschaftlichen Bereich erhebliche Folgen gehabt: Über Grenzen von Sprachen und Religionen hinweg haben sie wegen der Verhandlungen um die Freilassung der Gefangenen den Gesandtschafts- und den Geldverkehr angeregt und zu einem „mitunter engen Kontakt zwischen Christen und Muslimen“ geführt, wie Goridis schreibt. Der Autor geht mehrfach auf die Bedeutung der Ehefrauen ein. Unerwähnt bleibt aber leider Margarete von der Provence, Gemahlin Ludwigs IX.; ihrem Einsatz verdankten der König und seine Leute die Freilassung.
Hilfreich sind die Register für Namen, Orte und Institutionen. Zu bedauern ist das Fehlen einer Karte sowie eines Sachregisters; es hätte den Horizont des Autors angedeutet, denn man hätte Stichworte aufnehmen können wie Bürge, Eid, Erzählmotiv, Flucht, Fürstenspiegel, Geisel, Kirchenrecht, Konversion, Lösegeld, Papst, Ritterorden, Spielleute, Vermittler … Eine Straffung hätte der streckenweise langatmigen Darstellung gutgetan.
Gewöhnungsbedürftig sind Wörter wie narrativisiert und Narrativisierung. Nicht korrigiert wurden „capites“ und „pontificium“ (statt „capita“ und „pontificum“). Fazit: Die thematisch weit gespannte Studie zeigt, dass Christen und Muslime sich in der Zeit der Kreuzzüge nicht nur bekämpft haben, sondern auch um Ausgleich bemüht gewesen sind.
Rezension: Prof. Dr. Norbert Ohler