Wer sich für die mittelalterliche Geschichte des europäischen Judentums interessiert, der wird in den üblichen Geschichtsatlanten kaum jemals eine Karte dazu finden. Es bedarf schon eines Blicks in die wenigen, meist englischsprachigen Spezialwerke, wie etwa in den „Illustrated Atlas of Jewish Civilization”. Doch selbst dieser hat zum Teil erhebliche Mängel. So findet man dort eine Kartierung jüdischer Wohnorte in Mitteleuropa für den Zeitraum 1000 bis 1500, die aufgrund der fehlenden zeitlichen Differenzierung eine nie vorhandene Siedlungskontinuität vortäuscht. Auch sind nur die bedeutendsten jüdischen Gemeinden verzeichnet. Eine große Forschungslücke schließt jetzt ein kommentiertes Kartenwerk, das aus einem Sonderforschungsbereich der Deutschen Forschungsgemeinschaft in Trier unter der Federführung von Alfred Haverkamp hervorgegangen ist. Es besteht aus drei Teilen: dem eigentlichen Kartenwerk, das 105 Einzelkarten im Plakatformat umfaßt, einem Kommentarband sowie einem Ortskatalog. Erfaßt sind alle jüdischen Ansiedlungen im Zeitraum vom Jahr 1000 bis 1520 in einem Gebiet, das von Stade im Norden bis nach Fossana im Süden reicht und sich von Cambrai im Westen bis nach Halberstadt im Osten erstreckt. Damit ist ein Kernraum abgedeckt, der im wesentlichen das Siedlungsgebiet des aschkenasischen Judentums umfaßt. Um die Lesbarkeit der Karten zu erhöhen, wurde der Untersuchungsraum in fünf übersichtliche Kartenausschnitte eingeteilt. So können etwa die Kartenausschnitte einer Zeitstufe (wenn der Tisch groß genug ist!) aufgrund der breiten Überlappungszonen nebeneinander benutzt werden. Das beeindruckende Kartenwerk ermöglicht nicht nur eine räumlich übergreifende Betrachtung, sondern ist auch insofern einmalig, als hier erstmals der Versuch gewagt wird, jüdische Siedlungstätigkeit innerhalb eines Großraums als dynamischen Prozeß darzustellen. Dazu dient die zeitliche Differenzierung der Einzelkarten, die bis auf wenige Ausnahmen in Schnitten von jeweils 50 Jahren erfolgt. Der Untersuchungszeitraum deckt sich im wesentlichen mit den bislang vorliegenden Bänden des historischen Ortslexikons zur Geschichte der Juden in Deutschland („Germania Judaica I-III”), das auch die wichtigste Quelle für die kartographische Erfassung der jüdischen Ansiedlungen östlich des Rheins darstellt. Sowohl das Kartenwerk selbst als auch der Kommentar sind nach den folgenden Kartensequenzen gegliedert: Jüdische Siedlungen, nachweisbare religiös-kulturelle Einrichtungen, Verfolgungen und Vertreibungen, Pestpogrome, Erstbelege jüdischer Niederlassungen nach 1350 sowie Sonderkarten zu ausgewählten Themen (zum Beispiel innerjüdische Organisation).Wer sich ernsthaft mit der jüdischen Geschichte im Mittelalter befassen möchte, der wird aus diesem Standardwerk manch neue Einsichten und Fragestellungen gewinnen.
Rezension: Jütte, Robert