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Lebendige Phantome – Ein Entbindungshospital und seine Folgen 1751-1830

Schlumbohm, Jürgen

Lebendige Phantome – Ein Entbindungshospital und seine Folgen 1751-1830

Es ist … sehr unrichtig geurteilt, wenn man glaubt, dies Haus sei [der] Unehelich-Schwangeren wegen da. Mitnichten! Die Schwangeren, sie seien hernach verehelichte oder unverehelichte, sind der Lehranstalt halber da … Die ins Haus aufgenommenen Schwangeren und Kreißenden werden gleichsam als leben‧dige Phantome angesehen …“ So überspitzt formulierte der Göttinger Professor Friedrich B. Osiander den Zweck der von ihm geleiteten universitären Lehranstalt im Jahr 1794. In seinem voluminösen Band „Lebendige Phantome“ hat Jürgen Schlumbohm nun die Aufnahme- und Geburtenbücher mit etwa 3800 Geburten sowie das Verwaltungsschriftgut der wichtigsten deutschen Geburtsklinik systematisch ausgewertet und ein sehr differenziertes Bild dieses Versuchs, die Geburtshilfe zu verbessern, vorgelegt. Es gelingt ihm exemplarisch, Geschichte zu erzählen, wozu auch die genau erläuterten Abbildungen beitragen. Und er gibt auch den betroffenen Frauen eine Stimme, was anhand dieses Materials gar nicht einfach ist. Die Frauen mussten gewisse Zumutungen im Accouchierhaus ertragen: Der Arzt tastete nicht nur unter den Kleidern die Genitalien, den Bauch und die Brüste ab, sondern er legte diese Körperteile frei. Damit verletzte er die zeitgenössischen Schamschwellen, was er in der Privatpraxis tunlichst vermied. Mehr noch: Zu Lehrzwecken konnten ganze Gruppen von Hebammen und – streng getrennt – bis zu vier Medizinstudenten bei der körperlichen Untersuchung zusehen und ebenfalls tasten. Diese praktischen Übungen waren das Innovative an dieser Einrichtung, die gut zu Göttingen als damals modernster Universität des Reiches passte und viele Studenten anzog. Die Hebammen allerdings sollten später nur die „natürlichen“ Geburten betreuen, ansonsten wollte Osiander die selbständige Geburtsbegleitung der Hebammen einschränken und die männlichen Geburtshelfer fördern.

Was waren nun die Vorteile für die gebärenden Frauen? Manche hatten einfach keine andere Wahl, denn fast alle waren ledig und damit ohne familiäre Unterstützung vor Ort. Einige allerdings entzogen sich pfiffig den Zumutungen, als „Lehrmaterial“ zu dienen: Sie verheimlichten die Wehen (drei Prozent) oder kamen überhaupt erst in das Hospital, wenn die Wehen einsetzten (zehn Prozent). Die große Mehrheit aber war schon gut einen Monat vor der Geburt in der Klinik, wurde dort gratis verpflegt und medizinisch um-fassend versorgt und konnte gegen Bezahlung Leinen herstellen. Die Geburtshilfe – zu 40 Prozent mit der Zange – war ebenfalls gratis. Alle hatten außerdem Anspruch auf etwa 14 Tage Wochenbett. Schließlich konnten die Wöchnerinnen die Kirchenbuße wegen Unzucht diskret im interkonfessionellen Betraum des Hospitals – statt vor der großen Öffentlichkeit der Herkunftsgemeinde – erledigen. Das war vielen Frauen sehr wichtig. Es gab also viele Motive, in die Klinik zu gehen. Medizinisch war das Accouchierhaus weniger erfolgreich: Mütter- und Kindbettsterblichkeit entsprachen ziemlich genau derjenigen außerhalb des Hospitals. Allerdings hatten die Neugeborenen, deren Mütter länger in der Klinik waren, bessere Überlebenschancen, weil sie besser genährt waren.

Rezension: Prof. Dr. Martin Dinges

Schlumbohm, Jürgen
Lebendige Phantome – Ein Entbindungshospital und seine Folgen 1751-1830
Wallstein Verlag, Göttingen 2012, 608 Seiten, Buchpreis € 34,90
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