Die Wehrmachtrichter gehören zu den Funktionseliten des NS-Staates, über die noch immer kaum etwas bekannt ist. Wer waren die rund 3000 Militärjuristen, die unter dem Motto „Recht ist, was der Truppe nützt“ weit über 30 000 Todesurteile fällten und so mithalfen, einen verbrecherischen Angriffskrieg zu führen? Das Kriegstagebuch des Heeresrichters Werner Otto Müller-Hill beleuchtet diese Frage aus einer umgekehrten Perspektive, denn dieser war – das zeigt sein Kriegstagebuch aus den letzten 14 Kriegsmonaten – ein „untypischer Militärjurist“. Die Aufzeichnungen dokumentieren auf beeindruckende Weise Eigenständigkeit und Klarsicht eines Richters, der von 1942 bis 1944 bei einem Feldkriegsgericht in Straßburg Dienst tat. Er stammte aus dem liberalen badischen Bürgertum und gehörte zur älteren Generation der Wehrmachtjuristen, die bereits im Ersten Weltkrieg gedient hatten. Müller-Hill schreibt, er sei angeklagten Soldaten gegenüber stets um Milde und um Nachsicht bemüht gewesen.
Dies wird plausibel, wenn man liest, wie kritisch er Verlautbarungen des NS-Staats reflektierte. Er benannte die verbrecherischen Dimensionen der deutschen Kriegführung und bedauerte das Scheitern des Attentats auf Hitler im Juli 1944. Leider finden sich im Buch keine Anhaltspunkte dafür, warum nicht auch Aufzeichnungen der früheren Jahre dokumentiert sind. Zeitnahe Einschätzungen zum Überfall auf die Sowjetunion, an dem er offenbar auch teilgenommen hatte, wären sicher höchst interessant gewesen.
So zeigt das Buch leider auch das Dilemma, in dem die Erinnerungsliteratur über den Zweiten Weltkrieg der letzten Jahrzehnte steckt: Allzu oft erinnern sich nur diejenigen, die im Nachhinein auf der „richtigen“ Seite gestanden haben.
Rezension: Dr. Magnus Koch