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Man möchte immer weinen und lachen in einem – Revolutionstagebuch 1919

Klemperer, Victor

Man möchte immer weinen und lachen in einem – Revolutionstagebuch 1919

Um die Revolution von 1918/19 ist es still geworden. Ihre Zeitzeugen sind lange verstummt, den Begriff macht ihr die jüngere Schwester von 1989/90 streitig, und den zentralen Bezugspunkt des 20. Jahrhunderts markiert im kulturellen Gedächtnis nicht der halbherzige Aufbruch von 1918 bis 1933, sondern der vollendete Zivilisationsabbruch von 1933 bis 1945.

Wie ein kräftiger Gegenwind mutet vor diesem Hintergrund das „Revolutionstagebuch 1919“ an, mit dem Victor Klemperer seinen berühmten Tagebüchern aus den Jahren 1933 bis 1945 eine weitere Facette hinzufügt, die ihn zusammen mit seinen Aufzeichnungen von 1919 bis 1932 und von 1945 bis 1959 als einen der bedeutendsten Chronisten des 20. Jahrhunderts ausweist. Als Sensationsfund wurden die jetzt erstmals edierten Aufzeichnungen im Feuilleton gehandelt, auch wenn der Begriff „Revolutionstagebuch 1919“ etwas mehr verspricht, als das Werk halten kann. Tatsächlich handelt es sich um 15 mit dem pseudonymen Kürzel „A.B.“ – es steht für „Anti-Bavaricus“ – gezeichnete, damals nicht veröffentlichte Korrespondentenberichte, die Victor Klemperer für die Leipziger „Neuesten Nachrichten“ vom April und Mai 1919 verfasste.

Den Beiträgen, ergänzt um einen weiteren vom Januar 1920, wurden ausschnittweise die späteren Erinnerungen beigegeben, in denen Klemperer sich Anfang 1942 die damaligen Ereignisse vergegenwärtigte, um sie zu einem eigenen Kapitel seiner Autobiographie „Curriculum vitae“ zu machen. Dieses konnte er aufgrund seiner bedrängten Lage – Klemperer wurde als Jude verfolgt – dann nicht mehr schreiben. Den Band vervollständigen ein ausführlicher Anmerkungsapparat und ein Essay von Wolfram Wette, der Klemperers Aufzeichnungen in den historischen Kontext einbettet.

Klemperers Tagebuchnotizen enthalten nichts, was die bisherige Geschichtsschreibung in Frage stellt. Aber sie bieten viel Zeit‧kolorit und bemerkenswerte Beobachtungen zum Alltag der Münchner „Operettenrevolution“. Und sie präsentieren Klemperer als klarsichtigen Beobachter, der auch im Nebel der oft von Mund zu Mund kolportierten Tagesereignisse zu präziser Prophezeiung fähig war, so etwa zu der, dass auf den Revolutionsliteraten Gustav Landauer der Rätekommunist Max Levien und auf diesen die gegenrevolutionären Freikorps des Generals Franz von Epp folgen würden.

Doch seinen eigentlichen Wert gewinnt Klemperers Revolutionstagebuch aus der Verschränkung von drei Zeitebenen: der zeitgenössischen Nahsicht des taggenauen Beobachters mit dem distanzierten, aber noch zeitverbundenen Rückblick des Autobiographen und schließlich beider Zeitebenen mit der Fernsicht der Editoren und der Leser. Klemperer konnte die seltsame Bohème-Revolution in München nicht anders mitverfolgen als unter der Erfahrung der Schlacht‧orgie des Ersten Weltkriegs und sah vor allem ihre tragikomische Lächerlichkeit. Der in einem Dresdener „Judenhaus“ seiner bürgerlichen Existenz Beraubte fragte sich dagegen 1942, ob er damals in seiner unverstellten Parteinahme für das konserva‧tive Bürgertum seine Sympathie nicht der falschen Seite gegeben habe, denn dieses habe in der Revolutionszeit schon gegen „landfremde Elemente“ gehetzt und „Juden“ gemeint. Anders wiederum folgt der heutige Leser den Tagesbeobachtungen eines sich in den Wirren dieser Wochen zunehmend isoliert fühlenden Autors, der wegen seiner Assimilierungswilligkeit von Zionisten angegriffen und wegen seiner jüdischen Herkunft von manchen Universitätskollegen gemieden wurde. Man kann sie nicht lesen, ohne hinter Klemperers Schilderung der Münchner Räterepublik und ihrer brutalen Niederschlagung durch die Freikorps des späteren NS-Statthalters von Epp einen ersten Auftakt des völkermordenden Ordnungskampfes zu erkennen, der das weitere 20. Jahrhundert prägen würde. Aber man liest sie zugleich mit dem Bewusstsein, dass der Geist auch in solchen Zeiten nicht wehrlos ist: Im Rückblick auf das Chaos von Räterevolution und Gegenrevolution notiert Klemperer die eigentümliche Kraft von Formeln und Modewörtern, die den verunsicherten Menschen damals Halt geben sollten. Gleich im Sommer 1945 sollte daraus seine luzide Analyse der verlogenen Sprache des „Dritten Reiches“ entstehen, die bis heute ihre Frische und Gültigkeit bewahrt hat: die „LTI“ (Lingua Tertii Imperii).

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Rezension: Prof. Dr. Martin Sabrow

Klemperer, Victor
Man möchte immer weinen und lachen in einem – Revolutionstagebuch 1919
Aufbau Verlag, Berlin 2015, 263 Seiten, Buchpreis € 19,95
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