Noch heute pilgern Kranke nach Lourdes oder zu anderen Wallfahrtsorten, weil sie sich dort Heilung von ihren Leiden versprechen. Insbesondere in einer Zeit, als die Medizin kaum mehr als „Roßkuren“ anzubieten hatte, war die Hagiotherapie, die auf Wunderheilungen setzte, mehr als nur eine Alternative. Es gibt keinen mittelalterlichen Wallfahrtsort, der für den dort verehrten Heiligen nicht den „Arzt“-Titel in Anspruch nimmt. So behauptet beispielsweise ein Altöttinger Mirakelbüchlein von 1497, daß Maria eine Ärztin „über alle Ärzte“ sei. Auch die Verehrung des Heilands als „Christus medicus“ ist bereits seit dem Ende des 2. Jahrhunderts belegt. Gleichwohl hat sich die Geschichtswissenschaft für dieses Phänomen erst in jüngster Zeit stärker interessiert. Insofern ist es erfreulich, daß sich die beiden Schweizer Historikerinnen Maria Wittmer-Butsch und Constanze Rendtel dieses Themas angenommen und in ihrem Buch „Miracula“ 458 solcher Mirakelberichte aus dem Mittelalter sowie dem 16. Jahrhundert untersucht haben. Zu den ausgewerteten „Heiligendossiers“ zählen etwa die Wunderprotokolle Ludwigs IX. von Frankreich, Thomas von Aquins, der Elisabeth von Thüringen, der provenzalischen Adligen Dauphine de Puimichel sowie des Mailänder Erzbischofs Carlo Borromeo. Die beiden Autorinnen nähern sich von zwei Seiten ihrem Thema, von der historischen und der psychologischen. Leider ist das einleitende Kapitel über das Wunderverständnis im Wandel der Zeit nicht auf dem neuesten Forschungsstand. So fehlt etwa die vielbeachtete wissenschaftshistorische Studie von Lorraine Daston und Katharine Park, die inzwischen ebenfalls auf deutsch vorliegt (vgl. DAMALS 3-2003, S. 47). Weitgehend unproblematisch ist der erste Teil, in dem die verschiedenen hagiographischen Textgattungen vorgestellt und quellenkritisch gewürdigt werden. Auch die statistische Erfassung der Wunderberichte macht Sinn, soweit sie sich auf Basisdaten wie Geschlecht, Alter und sozialen Status beschränkt. Das Problem fängt erst mit dem Versuch einer Kategorisierung der geheilten Leiden an, vor allem, wenn man sich, wie es hier geschieht, der retrospektiven Diagnostik bedient. Als Medizinhistoriker reibt man sich verwundert die Augen, was die beiden Autorinnen alles aus den vagen Krankheitsbeschreibungen herauslesen können und anhand eines modernen medizinischen Fachwörterbuchs, des „Pschyrembel“, zu interpretieren versuchen. Dabei sind sogar heute noch zehn bis 25 Prozent aller Diagnosen selbst mit modernsten medizinischen Methoden als stark fehlerhaft anzusehen. Anscheinend müssen die beiden Autorinnen über hellseherische Fähigkeiten verfügen. Außerdem tun sie den Quellenberichten Gewalt an, wie die absurde „Skala des Wunderbaren“ zeigt oder der Versuch, den unterschiedlichen Leidensdruck der kranken Pilger mit Rangkoeffizienten zu messen.
Rezension: Jütte, Robert