Das Adelsgeschlecht de Croÿ (sprich: krö-i ) war im Grenzbe‧reich zwischen den südlichen, von 1714 an österreichischen Niederlanden und Frankreich sowie im Westen des römisch-deutschen Reiches begütert. Seine Mitglieder standen seit dem 15. Jahrhundert im Dienst der spanischen wie der französischen Krone, aber auch des Kaisers. Anne Emmanuel de Croÿ, Autor der vorliegenden Memoiren, wuchs in Frankreich auf und wurde früh in das Hofleben von Versailles eingeführt. Er schlug die militärische Laufbahn ein, zeichnete sich in mehreren Feldzügen des Österreichischen Erbfolgekriegs (1740–1748) aus und avancierte 1783 zum Marschall von Frankreich.
Die Originalfassung seiner Memoiren befindet sich in Paris und ist hier 1906/07 erschienen. Die von Hans Pleschinski vorgenommene Auswahl umfasst rund ein Viertel davon. Sie konzentriert sich hauptsächlich auf die Zustände in Versailles sowie in Paris, wo der Verfasser ebenfalls seinen Wohnsitz hatte. Die Erinnerungen stellen eine interessante Quelle für das französische Hofleben zur Zeit Ludwigs XV. und seines Nachfolgers dar, sie sind aber auch für die Sozialgeschichte des Adels im 18. Jahrhundert aufschlussreich.
So werden die Versailler Verhältnisse, das Antichambrieren um wichtige Posten und die oft vergeblichen Versuche, zum König vorzudringen, mitsamt den damit verbundenen Enttäuschungen und Zurücksetzungen eingehend geschildert. Der Person des oft verkannten Ludwig XV. gilt die ganze Aufmerksamkeit de Croÿs bis hin zum qualvollen Tod des Mon-archen an den Pocken im Mai 1774. Er würdigt aber auch eingehend die Minister des Königs und seine Mätressen, vor allem die von ihm sehr bewunderte Marquise de Pompadour.
Die vom Herausgeber getroffene Auswahl und seine Übersetzung sind gut gelungen. Die manchmal ermüdenden Aufzählungen de Croÿs über die täglichen Begebenheiten am Hof und seine persönlichen Erlebnisse werden durch sachkundige Zwischenkommentare aufgelockert sowie durch kurze Zusammenfassungen überbrückt; die erläuternden Anmerkungen sind knapp, aber informativ.
Die in größerem Umfang erstmals auf Deutsch veröffentlichten Memoiren bereichern unsere Kenntnisse über das adlige Leben im Frankreich vor 1789 ungemein. Dies gilt nicht zuletzt für das erste Regierungsjahrzehnt Ludwigs XVI., in dem sich die große Revolution, die de Croÿ nicht mehr erlebte, bereits andeutete.
Rezension: Prof. Dr. Michael Erbe