Wenige Wochen nach Kriegsende folgte eine kleine Gruppe linientreuer Kommunisten im kriegszerstörten Berlin einem geheimen Auftrag: Sie sollten Akten der NSDAP, der Gestapo, der Gerichte und anderer NS-Einrichtungen sicherstellen und nicht zuletzt dem Zugriff der Westmächte entziehen. Bald begann die Auswertung der stetig wachsenden Aktenbestände, die von 1950 an vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) geführt wurden. Akribisch fahndete man über Jahrzehnte nach Nazi-Tätern, aber auch nach SED-Mitgliedern, die zwischen 1933 und 1945 nicht standhaft geblieben waren.
Henry Leide hat für die „Birthler-Behörde“ eine gut geschriebene Studie vorgelegt, in der er der SED-Diktatur eine „Politik des instrumentellen Antifaschismus“ bescheinigt. Anhand zahlreicher Fallstudien zeigt er auf, wie das MfS im Auftrag der SED zwar Hunderte von ehemaligen, teils schwer belasteten Nationalsozialisten in hohen Positionen in der Bundesrepublik angeprangert hat. Andererseits weist er nach, daß ebendieses MfS seit den 50er Jahren in der DDR untergetauchte NS-Belastete vor einer Strafverfolgung schützte. NS-Täter sollten Sache Westdeutschlands sein. Einschlägige Strafverfahren gegen DDR-Bürger galten dem antifaschistischen Selbstbild als abträglich.
Aber es sollte noch schlimmer kommen: Das MfS schirmte DDR-Bürger nicht nur vor NS-Ermittlungsverfahren aus West- und (!?) Osteuropa ab. Der Geheimdienst warb auch zahlreiche NS-Täter als Spitzel an. Für den Einsatz im Westen, aber mehr noch im eigenen Land.
Henry Leides mit Augenmaß verfaßte Studie trägt weiter dazu bei, den DDR-Antifaschismus eher als Legitimations- und Kampfinstrument zu begreifen denn als Ausdruck von politischer Überzeugung. Daß NS-Opfer, die gegen diese verdeckte Integrationspolitik aufbegehrten, leicht selbst zum Zielobjekt geheimdienstlicher Verfolgung werden konnten, beschreibt Leide eindringlich in seinem Kapitel „Opfertraumatisierung und Täterintegration: Die Einsamkeit eines ehemaligen Ausschwitzhäftlings“.
Rezension: Mählert, Ulrich