Vier Jahre nach den Jahrhundertfeiern also noch eine Gesamtdarstellung zum Ersten Weltkrieg. Holger Afflerbach, Professor of Central European History in Leeds, hat sich Zeit gelassen und legt nun zum Ende des Zentenariums eine lesenswerte Monographie vor. Auf den ersten Blick ist die Konzeption traditionell: eine Geschichte aus der Perspektive der Entscheidungsträger, noch dazu mit Fokus auf dem Deutschen Reich. Viele neue Quellen kann er nicht vorlegen.
Dafür bürstet Afflerbach die bekannten Quellen kräftig gegen den Strich und stellt einige liebgewonnene Wahrheiten in Frage. Seine These: So eindeutig, wie es die Geschichtswissenschaft heute sieht, war der Ausgang des Krieges nicht vorprogrammiert. Tatsächlich habe die militärische Entscheidung oft „auf Messers Schneide“ gestanden. Aus der Unmöglichkeit eines Remis lassen sich die Dauer und die Unerbittlichkeit des Kampfes erklären. Afflerbach legt den Fokus also auf verpasste Weichenstellungen, auf übersehene Alternativen, und das macht das Buch ungewöhnlich.
Der Erste Weltkrieg ist für ihn der Kampf einer größeren Allianz (Entente) mit einer militärisch effektiveren (Mittelmächte). Die deutsche Politik und Kriegführung versteht er zu Recht nicht als zielgerichteten „Griff nach der Weltmacht“. Vielmehr weist er auf politische Dissonanzen hin, auf strategische Planlosigkeit, auf blindes Vertrauen in die eigenen militärischen Fähigkeiten und auf die Oberste Heeresleitung.
Auf der anderen Seite präsentiert sich die Entente als ein Bündnis, das sich angesichts der enormen Verluste immer stärker auf eine Siegfrieden-Strategie versteifte. Die drei deutschen Friedensangebote von 1916/17 – „trotz vieler unverzeihlicher Halbherzigkeiten ernstgemeint“, so der Autor – habe die Entente verworfen. Die Untersuchung, warum beide Seiten keinen Ausweg mehr aus dem Krieg gefunden haben, gehört zu den stärksten Teilen des Buchs. Am Ende gab es, so Afflerbach, in Versailles keinen Frieden, sondern – kaufmännisch gesprochen – eine Abschlussrechnung. Damit habe die Entente zwar den Krieg gewonnen, den Frieden aber verloren.
Der Autor löckt immer wieder gegen den Stachel der älteren Lehrmeinungen, wie sie der Hamburger Historiker Fritz Fischer vertreten hatte und wie sie heute freilich nur noch hier und da im Geschichtsunterricht und im Feuilleton vertreten werden. Insgesamt ist „Auf Messers Schneide“ ein anregendes und spannend zu lesendes Buch zu einem Konflikt, der ein ganzes Jahrhundert geprägt hat.
Rezension: Dr. Markus Pöhlmann
Holger Afflerbach
Auf Messers Schneide
Wie das Deutsche Reich den Ersten Weltkrieg verlor
Verlag C. H. Beck, München 2018, 664 Seiten, € 29,95