Als ein Reisebuch für „Touristen und Daheimgebliebene“ preist der Verlag dieses zehnte Produkt in der Reihe „Das andere Reisebuch“ der Geographin Ulrike Keller an. Auch hier etwa 40 Texte von Reisenden aus mehreren Jahrhunderten in deutscher Übersetzung abgedruckt und von der Herausgeberin mit einer kurzen Einleitung, aber keinen weiteren Kommentaren versehen.
Die Texte sind chronologisch angeordnet. Sie decken verschiedene Regionen Schottlands und einige Themenbereiche der schottischen Geschichte ab. Die Auswahl beginnt mit Strabos kritischer Wiedergabe eines verlorenen Reiseberichts des Pytheas von Massilia aus dem frühen 4. Jahrhundert v. Chr., enthält Darstellungen aus Mittelalter (etwa Eneo Sylvio Piccolomini) und früher Neuzeit (zum Beispiel Boswells Bericht über die Flucht von Bonnie Prince Charlie) sowie zahlreiche Reiseberichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Sie decken Themen wie Industrialisierung, Bildung, Krieg (Scapa Flow), Kunst und natürlich das britische Königshaus ab.
Viele für Schottland zentrale Themen fehlen allerdings. Fast nichts erfährt man über die neuere schottische Kirchengeschichte, obwohl die presbyterianische Kirche und ihre zahlreichen inneren Konflikte und Spaltungen die Geschichte des Landes tief geprägt haben. Übergangen wird der „englische Bürgerkrieg“, der zunächst auch ein schottisch-englischer Krieg war. Vollständig ausgeblendet wird die massive irische Einwanderung, die bis heute – nicht nur im Fußball – einen Konfliktherd in Schottland darstellt. Wichtige politische und kulturelle Tendenzen der letzten Jahrzehnte bleiben unterbelichtet.
Insgesamt vermitteln Auswahl und Kommentare nicht den Eindruck, dass die Herausgeberin der Texte intensiv mit der Geschichte und Kultur Schottlands vertraut ist. Schade ist auch, dass das Buch einer Geographin keine (historischen) Karten enthält. Das hätte zum Verständnis mancher Texte wesentlich beigetragen.
Die Einführungstexte geben auch nur ganz spärlich weitere Hinweise für kulturgeschichtlich interessierte Reisende. So erfährt man nichts über die aufregenden Funde römischer Brieftafeln am Hadrian’s Wall, die in dem Museum in Vindolanda gezeigt werden, nichts über die faszinierende Anlage der Fabrik Robert Owens in New Lanark, die heute Weltkulturerbe ist, obwohl diese Orte in den Texten berührt werden. Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Fast gewinnt man den Eindruck, dass dieses Reisebuch nicht „für Daheimgebliebene“, sondern von einer Daheimgebliebenen herausgegeben wurde, die ihren Streifzug durch Schottland in einer deutschen Universitätsbibliothek absolviert hat.
Rezension: Gestrich, Andreas