1945 gab es im besiegten Deutschland neun Millionen Ausgebombte und Evakuierte, 14 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene, zehn Millionen entlassene Zwangsarbeiter und Häftlinge sowie viele Millionen nach und nach zurückkehrende Kriegsgefangene. Der Kulturjournalist Harald Jähner beschreibt in seinem Buch „Wolfszeit“ die ersten zehn Jahre der Nachkriegszeit in Deutschland, die von Chaos und Neuanfang, Kriegstraumatisierung und Schuldverdrängung geprägt waren. Der tägliche Kampf ums Überleben dominierte das Empfinden vieler Deutscher, die sich als Opfer der Umstände sahen. Zunächst war Aufräumen der Trümmer und „Organisieren“ von Lebensmitteln durch Plündern und Schwarzmarkthandel angesagt, aber auch eine „überschäumende Sinnproduktion“ bemerkt Jähner angesichts des Zusammenbruchs, die keinen Blick auf die wahren Opfer, die verfolgten Juden etwa, zuließ.
In seiner gut bebilderten Alltags- und Mentalitätsgeschichte nimmt der Autor viele verschiedene Bevölkerungsgruppen in den Blick: die selbständiger gewordenen Frauen, die gleichwohl viele der neuen Freiheiten wieder aufgaben, die heimkehrenden Männer, die auf sich gestellten Kinder und Jugendlichen, die vielen Gestrandeten. Aus Einzelschicksalen formt sich ein facettenreiches Bild eines Nachkriegsjahrzehnts, in dem Verzweiflung und Lebensgier so nah beieinander lagen.
Rezension: Dr. Heike Talkenberger
Harald Jähner
Wolfszeit
Deutschland und die Deutschen 1945–1955
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2019, 474 Seiten, € 26,–