Bis heute wird in Österreich der antifaschistische Gründungsmythos der Zweiten Republik gepflegt. Viele Bewohner des Alpenlandes sehen ihren Staat nach wie vor nicht als mitverantwortlichen Teil des NS-Staates, sondern vielmehr als erstes Opfer der Annexionspolitik Hitlers vor dem Kriegsausbruch. Daß der „Anschluß“ 1938 zwar von Berlin forciert, von weiten Teilen der Bevölkerung in der „Ostmark“ aber bejubelt wurde, wird gern übersehen.
Gerade im ersten Jahrzehnt nach dem Krieg waren strenge Mahner selten anzutreffen, die öffentlich die oftmals bedingungslose Gefolgschaft gegenüber Nazi-Deutschland anprangerten; dies gilt auch für die damalige Tagespresse. Herausragende journalistische Texte aus der Zeit zwischen 1945 und 1955 sind nun in der Anthologie „Unerhörte Lektionen“ – herausgegeben von Fritz Hausjell und Wolfgang R. Langenbucher – erschienen. Sie setzen sich satirisch, anklagend, ernüchternd oder auch nur bestandsaufnehmend mit den Erfahrungen der NS-Zeit auseinander. Viele der ausgewählten Artikel – sie erschienen überwiegend in der „Arbeiter-Zeitung“, dem Blatt „Neues Österreich“ oder dem „Abend“ – offenbaren bei der Lektüre regelrecht literarische Qualitäten. Zusammen bilden sie eine kurzweilige und lesenswerte Sammlung, die einiges zum Verständnis Österreichs in der Nachkriegszeit beiträgt.
Ein Archiv aller Ausgaben der Wiener „Arbeiter-Zeitung“ zwischen 1945 und 1989 findet man übrigens unter http://www.arbeiter-zeitung.at.
Rezension: Böhles, Marcel